Das Geheimnis der Maori-Frau (German Edition)
Tante und ihres Onkels: eine Gefangene.
Nur wenn sie mit Ben zusammen war, war sie wirklich frei.
»Ben, ich habe mir etwas überlegt.« Sie setzte sich auf und schaute ihn an. »Einen Weg, wie wir miteinander in Verbindung bleiben können, auch wenn wir getrennt sind.«
Aufmerksam neigte er den Kopf. »Und wie?«
May atmete tief durch. »Du weißt doch, dass Cal mir alle paar Tage neue Bücher aus der Schulbibliothek holt.« Als Ben nickte, fuhr sie fort. »Ich werde ab jetzt jeden Abend einen Brief für dich schreiben und ihn unter dem Einband eines der Bücher verstecken, die Cal zur Bücherei zurückbringt. Ich sage dir vorher, welches Buch es ist und was ich mir als Nächstes mitbringen lasse.«
»Und ich lege dir dann ebenfalls einen Brief hinein, richtig?« Ben lächelte, und May wünschte sich, sie könnte diesen Augenblick einfangen und auf ewig in ihrem Herzen einschließen: Ben, in silbernes Mondlicht getaucht, ein verschmitztes Funkeln in den gletscherblauen Augen …
»Du findest die Idee gut?«
»Sehr gut sogar.« Er umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen und schaute sie einen Moment lang einfach nur an.
»Was ist?« Das Herz schlug ihr jetzt bis zum Hals.
»Du bist einfach wunderschön, weißt du das?« Er sagte es mit einer solchen Ernsthaftigkeit, dass May beinahe die Tränen kamen. »Ich … Ich sollte das jetzt nicht tun, aber ich kann einfach nicht anders. Bitte verzeih …«
Und dann senkte er langsam, ganz langsam, seine Lippen auf ihren Mund und küsste sie so zärtlich, dass May zu schweben glaubte.
Es war noch viel besser, als Schiller es in seinem Stück beschrieben hatte. Viel besser als alles, was May in ihrem fünfzehnjährigen Leben bisher widerfahren war. Atemlos wisperte sie seinen Namen, immer und immer wieder. War es das, was man Liebe nannte? Nun, wenn ja, dann wollte May es niemals wieder missen.
Aber wie soll das gehen? Onkel Ingram wird niemals zulassen, dass du gehst …
Rasch verdrängte sie den Gedanken an ihn. Die Realitätwürde sie noch früh genug wieder einholen – jetzt zählten nur Ben und sie …
Aorakau Valley, 9. Juli 1954
Liebster Ben,
die ganze Nacht habe ich wach gelegen, weil ich einfach nicht aufhören konnte, an Dich zu denken. Nie in meinem ganzen Leben hätte ich gedacht, dass mir so etwas Wunderbares widerfahren könnte.
Dass ich jemals einen Menschen treffen würde, der meine Seele und mein Herz berührt, so wie Du es tust. Du bist es, der mein Dasein mit Sinn erfüllt. Ich weiß nicht, wie ich all die Jahre ohne Dich ertragen habe, allein in meinem Zimmer hier oben unter dem Dach, umgeben von so viel Kälte und Hass.
Ich will nicht ungerecht sein, Liebster. Tante Caroline war immer gut zu mir, und Callum ist mir stets ein guter Freund und Zuhörer gewesen. Ich glaube, ohne ihn wäre ich manches Mal verrückt geworden vor Einsamkeit. Doch es ist nicht dasselbe, verstehst Du?
Erst seit ich Dich kennengelernt habe, weiß ich, was mir gefehlt hat. Es ist schwer zu beschreiben, aber ich habe das Gefühl, Dich schon immer zu kennen. Du bist mir so vertraut, als wärst Du ein Teil von mir. Und jede Minute des Tages trage ich Deine Liebe in mir, sodass ich Dich um mich habe, selbst wenn Du nicht bei mir sein kannst.
Trotzdem sehne ich Dich herbei, mein liebster Ben. Ich stelle mir vor, wie wir Hand in Hand gemeinsam durch die Nacht gehen, der funkelnde Sternenhimmel über uns. Und wir sind frei und müssen uns nicht verstecken. Jeder kann unsere Liebe sehen.
Aber leider weiß ich, dass dieser Traum sich niemals erfüllen wird. Mein Onkel wird mich niemals ziehen lassen. Und eines Tages wirst du ein anderes Mädchen finden. Eines, das nicht in einer kleinen Kammer unter dem Dach eingesperrt ist, eines, mit dem Du überallhin gehen kannst. Und dann wirst Du mich vergessen, und ich bin wieder einsam und verloren – nur dass ich dieses Mal weiß, wie es sich anfühlt, geliebt zu werden.
Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, wir wären einander niemals begegnet. Ich …
Eine Träne einzelne Träne löste sich von Mays Kinn, fiel auf das Papier und ließ die Tinte verschwimmen. Als es im selben Moment an der Tür zu ihrem Zimmer klopfte, ließ sie den Brief rasch unter ein paar Heften in der obersten Schublade ihres Schreibtisches verschwinden. Hastig wischte sie sich die letzten verräterischen Tränenspuren aus dem Gesicht und straffte die Schultern. »Ja?«
Es war Callum. »Ich fahre in die Stadt. Soll ich für dich
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