Das Geheimnis der Maurin
ausüben zu können. Sie schrieben von ihrer Angst, in naher Zukunft – ähnlich wie die Juden vor ein paar Jahren – zwangsweise und damit auch ohne die Möglichkeit, ihr Eigentum mitzunehmen, ausgewiesen zu werden. Sie zögerten allerdings, ihre Tochter mit auf diese gefährliche Reise zu nehmen, zumal sie zur Hochzeit im übernächsten Jahr dann wieder übers Meer hätten zurückreisen müssen, und das, obwohl dort immer mehr Piraten ihr Unwesen trieben. Leider aber gab es niemanden, bei dem sie ihre Tochter bis zur Hochzeit lassen konnten, weswegen sie in aller Demut anfragten, ob sich Abdarrahmans Familie vorstellen könne, die beiden schon jetzt zu verheiraten.
Es war Raschid, der das Schreiben nach dem Essen den Erwachsenen und Abdarrahman vorlas, da Jaime zwar Maurisch sprach und verstand, es aber nicht gut lesen und schreiben konnte, und kaum erkannte Abdarrahman, worauf es abzielte, sprang er von seinem Sitzkissen auf und spuckte seinem Vater ein wütendes »Da steckt doch Ihr dahinter!« entgegen.
Noch ehe Jaime ebenfalls aufspringen konnte, packte Zahra ihn am Arm. »Bitte nicht, Jaime! Das bringt uns nicht weiter!« Auch ihren Sohn zwang sie mit einem scharfen »Abdu!«, sich wieder zu setzen. »Zu solchen Maßnahmen zu greifen hat dein Vater ganz gewiss nicht nötig, und ich übrigens auch nicht!«
»Dann soll Adilah halt wie Aaron einfach so bei uns wohnen!«, knurrte Abdarrahman, wobei er es strikt vermied, auch nur in die Richtung seines Vaters zu sehen. »Im Mädchenzimmer ist noch genug Platz!«
Zahra schüttelte den Kopf, und auch Raschid urteilte, dass dies für niemanden eine Lösung sei. Jaime schwieg. Zahra sah von einem zum anderen und wunderte sich, welch heftige Beklemmungen der Gedanke an die Hochzeit in ihr auslöste. Bisher war ihr dieser letzte Schritt ihres Sohnes ins Erwachsenenleben immer so weit weg erschienen, dass sie noch nie ernsthaft darüber nachgedacht hatte, aber jetzt … Ihr ältester Sohn war ihr auf eine Art und Weise nah, wie sie es mit den anderen beiden Kindern nie gespürt hatte – auch wenn sie sie mit derselben Bedingungslosigkeit liebte. Aber Abdarrahman – das war auch die dramatische Zeit ihrer Schwangerschaft mit ihm, eine Zeit, in der dieses winzige Wesen in ihr alles gewesen war, was ihr noch einen Grund gegeben hatte, am nächsten Tag wieder die Augen zu öffnen. Dann später die schwierigen Umstände seiner Geburt und die Angst, dass er entdeckt werden und ihr für immer entrissen werden könnte … Mit einem Mal erschienen ihr all die Not, die Ängste, das Leid wieder ganz nah zu sein. Es war, als sei damals ein Band zwischen ihnen entstanden, das sich weigerte, zerrissen zu werden – von wem oder was auch immer. Ach was, das ist die blanke Eifersucht, warf sich Zahra vor, ja, du bist eifersüchtig! Aber tief in ihrem Inneren wusste sie, dass es mehr war als das … und ebenso, dass sie keinesfalls gegen die Hochzeit reden durfte, wenn sie Jaime nicht erneut gegen sich aufbringen wollte.
»Ich heirate jetzt nicht«, brummte Abdarrahman noch einmal. »Nicht jetzt!«
Da erhob sich Jaime und sagte mit entschiedener Stimme zu Raschid: »Du kannst Adilahs Eltern schreiben, wir seien mit dem Vorschlag einverstanden und Abdarrahman freue sich, seinen künftigen Schwiegereltern einen Dienst zu erweisen. Schließlich ist er der Letzte, der nicht verstehen würde, dass man alles, aber auch wirklich alles dafür tut, seinen Glauben zu bewahren, nicht wahr, mein Sohn?«
Er sah Abdarrahman an – und dieser ihn, und Zahra wusste nicht, welcher der Blicke ihr mehr Angst einflößte. Immerhin aber wagte Abdarrahman nicht, erneut aufzuspringen und auch nicht, etwas zu erwidern. Irgendwann senkte er den Kopf, und Zahra spürte seine Wut so klar, als läge sie in Form eines glühenden Dolches vor ihr.
Schon sechs Wochen später sollte die Hochzeit stattfinden. Wegen der gebotenen Eile sollte sie nicht ganz so groß und prächtig gefeiert werden, wie es angesichts zweier so hochstehender Familien üblich gewesen wäre. Doch Abdarrahman war ohnehin nur eines wichtig: Er wollte Adilah sehen, und das
vor
der Hochzeit, und es interessierte ihn kein bisschen, dass dies verboten war. Zu seinem Verdruss kannte er noch nicht einmal jemanden, der das Mädchen je gesehen hatte. Auch seine Mutter war ihr nur ein Mal begegnet, als Adilah noch ein kleines Mädchen gewesen und die Hochzeit vereinbart worden war. Vor Nervosität brachte er allmählich kaum noch
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