Das Geheimnis der Maurin
kann das nicht!«
»Wir müssen es aushalten, Zainab, wir müssen«, entgegnete Zahra und beruhigte sich jetzt wieder. »Spätestens seit auch du noch von zu Hause verschwunden bist, wird Raschid einen Suchtrupp zusammengestellt haben. Und er wird uns finden, ganz gewiss, nur daran dürfen wir denken! Wir dürfen jetzt nicht den Mut verlieren!«
Zainab musste husten. Obwohl sie sich bemühte, den Hustenreiz zu unterdrücken, wurde er immer schlimmer. Zahra strich ihr über den Rücken. »Ruhig, Zainab, ruhig, wir dürfen jetzt nicht die Nerven verlieren. Ganz gewiss können wir noch viele Tage ohne Wasser auskommen. Man hat im Krieg doch immer wieder gehört, wie unglaublich lange Belagerte ohne einen Tropfen Wasser ausgehalten haben. Das schaffen wir auch, ganz sicher schaffen wir das!«
In Wahrheit hatte Zahra nicht die leiseste Ahnung, wie lange man ohne Wasser überleben konnte, und befürchtete, dass sie ziemlich übertrieb, aber auf der anderen Seite war ihr klar, dass Panik und Husten ihre Kehlen nur noch trockener machen würden.
Mit einem Mal kam ihr eine Idee. Sie zog ihren Schutzring vom Finger und drückte ihn Zainab in die Hand. »Hier, nimm den in den Mund und lutsch daran. So kannst du deinen Hals befeuchten, und dann hört der Husten gewiss gleich auf.«
Zainab versuchte es, und in der Tat ließ der Hustenreiz nach. Später lutschte Zahra an dem Ring; dann gab sie ihn Zainab wieder – und nichts weiter als dies blieb ihnen in den nächsten Stunden zu tun. Dies und sich immer wieder, mal nur in Gedanken, mal laut, die Frage zu stellen, ob Ibrahim wiederkäme – und sie hätten nicht zu sagen vermocht, vor welcher Antwort sie sich mehr fürchteten.
Ein weiterer Tag mochte vergangen sein. Weder Zahra noch Zainab redeten viel; die meiste Zeit lagen sie matt danieder, und wenn überhaupt eine von ihnen sprach, dann erzählte sie von früher. Es waren die schönen Erinnerungen, die sie suchten, aus jener Zeit, als ihre Mutter noch lebte und sie alle zusammen draußen auf der Seidenfarm lebten. Da das Reden sie von Mal zu Mal mehr Kraft kostete, fiel immer seltener ein Satz, und schließlich verstummten sie ganz. Mit einem Mal spürte Zahra, wie ihr Herz schneller zu schlagen und schließlich zu rasen begann. Sie wollte Zainab um den Ring bitten. Zwar brachte das Lutschen des Rings inzwischen weder ihr noch Zainab mehr Erleichterung, weil ihre Körper so ausgetrocknet waren, dass auch der Ring keine Spucke mehr hervorzulocken vermochte, aber sie hoffte, dass er sie wenigstens beruhigen konnte. Den Mund zu öffnen, ein Wort hervorzubringen, war jedoch mehr, als sie vermochte. Wie eingesperrt kam sie sich vor in ihrem vertrocknenden Körper, wie lebendig begraben, und mittendrin in dieser sterbenden Ödnis war dieses Herz, das pumpte und pumpte und pumpte …
»Zahra, was ist?«, hörte sie mit einem Mal ihre Schwester mit schleppender Stimme fragen. »Du … du atmest so komisch.«
Ganz weit weg erschien Zahra diese Stimme, so weit weg …
»Zahra, Zahra? Was ist?«
Schrill und dünn klang Zainabs Stimme … und noch weiter weg …
Du musst dich zusammenreißen,
sagte sich Zahra.
Du darfst Zainab nicht so erschrecken …
Aber erst als Zainab noch gellender, noch panischer nach ihr rief, brachte sie zumindest ein »Ich … weiß … nicht …« hervor.
Alles drehte sich um sie, und das, obwohl sie flach auf dem Boden lag. Der Schwindel war so heftig, dass sie unwillkürlich die Hände gegen den Boden presste. In irgendeinem Teil ihres Kopfes wusste Zahra, dass sowohl ihr Herzrasen als auch der Schwindel durch den Wassermangel hervorgerufen werden mussten und dass es sie nicht wundern durfte, dass sie die Folgen des Flüssigkeitsmangels vor ihrer Schwester verspürte, weil sie auch schon am Tag, bevor die Karaffe umgefallen war, kaum etwas getrunken hatte, aber diese Erkenntnis stand so isoliert in ihrem Kopf, dass sie mit ihr nichts anzufangen wusste.
»Zahra, so sag doch endlich, was du hast!«
Zahra hatte das Gefühl, dass Zainabs Stimme davonflog, dann noch einmal zurückkehrte, und wollte ihr rasch antworten, ehe sie wieder davonflog, schon allein, um sie nicht noch mehr zu ängstigen. Sie öffnete den Mund – doch ihre Zunge, dieser unförmige, trockene Klumpen, gehorchte ihr nicht. Sie merkte, wie ihr Kopf zur Seite sank und feine, herrlich kühle und feuchte Nebelschwaden in ihre Sinne zogen, und dann war es auf einmal paradiesisch still und ruhig und frisch in
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