Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
abgesperrt, warum also kam der unerwartete Besuch nicht einfach herein? Aber Bruder Thomas war schon aufgesprungen und riss die Tür auf, Anna folgte ihm auf den Fersen. Wer Einlass begehrte, war der Pferdeknecht von Chassim, er hielt noch sein Pferd am Zügel. Anna erkannte ihn sofort an seinen vielen Sommersprossen und erschrak bei seinem Anblick. Er war völlig außer Atem, kreidebleich und so aufgeregt, dass er zuerst kein Wort herausbrachte.
Bruder Thomas sprach ihn an: »Was ist los mit dir, Bursche? Was willst du?«
»Mein Herr … er … er …«, stammelte der Pferdeknecht endlich, »mein Herr, er schickt mich. Ihr müsst sofort kommen.«
»Wer ist dein Herr?«, fragte Bruder Thomas, aber Anna schob ihn schon beiseite.
»Was ist mit Junker Chassim?«, fragte sie und bemühte sich, eine bange Ahnung, die sich in ihrem Bauch mit einer plötzlichen Wucht ausbreitete, zu unterdrücken.
»Er ist schwer verletzt, und der Feldscher will ihm sein Bein abnehmen!«, platzte es förmlich aus dem Pferdeknecht heraus.
Anna und Bruder Thomas wechselten einen kurzen Blick. Sie durften sich jetzt keine Fehler erlauben und nichts vergessen.
Anna fragte: »Wo ist dein Herr verletzt?«
»Das Bein. Er ist beim Lanzenstechen unglücklich vom Pferd gestürzt und hat sich das Bein gebrochen. Er hat viel Blut verloren.«
»Wir kommen. Warte auf uns, wir holen nur rasch unsere Pferde.«
Sie rannte zu Bruder Thomas in die Behandlungsstube, der schon das Nötigste zusammengerafft hatte.
»Nehmt die Schlafschwämme mit. Und genügend Aqua Vitae und Verbandszeug!«, wies sie ihn an.
»Was ist mit der Knochensäge?«, fragte Bruder Thomas, und Anna starrte ihn einen Herzschlag lang an, als ob er für den Unfall von Chassim verantwortlich wäre.
»Falls ihm das Bein abgenommen werden muss«, setzte Bruder Thomas fast entschuldigend hinzu und hob die Hände zu einer hilflosen Geste.
»Nehmt sie auch mit«, sagte Anna kurz angebunden. »Und Nadeln und Fäden, falls wir nähen müssen.«
Sie nahm ihm ihren Ranzen aus der Hand und lief schon voraus in die Scheune, wo zwei Pferde und ein neuer Planwagen standen. Sie sattelte die Tiere, so schnell sie konnte. Bruder Thomas kam hinzu und half ihr.
Dann öffnete er das Scheunentor, und sie stoben hinter dem Pferdeknecht her, der vorausritt. Anna war eine gute Reiterin, das hatte ihr Pater Urban im Kloster beigebracht, und konnte das hohe Tempo mithalten, das der Bursche anschlug. Im gestreckten Galopp ging es um die Stadtmauer herum in Richtung Turnierplatz.
Annas Gedanken überschlugen sich. Also war doch ein schlimmer Unfall geschehen. Sie hatte sich am Tag zuvor aus einer unerklärlichen Trotzhaltung und nur, weil sie »Nein« zu Chassim gesagt hatte, entschlossen, nicht noch einmal zum Turnier zu gehen, und jetzt machte sie sich Vorwürfe, dass sie besser mit ihrer Ausrüstung vor Ort gewesen wäre. Wenn Chassim so schwer verletzt war, wie es sein Bursche beschrieben hatte, war jetzt jeder Augenblick kostbar, um noch rechtzeitig eingreifen zu können. Gott allein wusste, was dieser stümperhafte Feldscher schon mit Chassim angestellt hatte. Anna wagte gar nicht, daran zu denken! Aber dann schärfte sie sich ein, dass sie unter allen Umständen Ruhe bewahren musste. Bestimmt war am Turnierplatz der Teufel los, und alle Augen würden auf sie gerichtet sein, wenn sie dort auftauchte. Sie durfte sich keine Schwäche und keinen Fehler erlauben, schon um Chassims willen.
Sie schaute sich kurz um, Bruder Thomas war weit zurückgeblieben. Vor ihnen tauchten schon die Zelte und die Tribüne auf. Schaulustige, die ihnen im Weg standen, verscheuchte der vorausreitende Pferdeknecht, indem er ständig »Weg da! Aus dem Weg!« schrie. Die Leute stoben auseinander und bildeten eine Gasse, durch die sie endlich den Turnierplatz erreichten. Die Tjost war anscheinend nach Chassims Unfall abgebrochen worden, Gruppen von Zuschauern standen herum und diskutierten oder hielten Maulaffen feil. Der Pferdeknecht verlangsamte sein Tempo, sie steuerten jetzt auf die Zelte zu. Vor Chassims Unterkunft hielt er an und wies auf den Eingang. Anna sprang vom Pferd, packte ihren Ranzen, drückte dem Pferdeknecht die Zügel in die Hand und betrat das Zelt.
Chassim lag auf einer blutbesudelten Liege. Auf den ersten Blick sah Anna, dass das Schienbein gebrochen war, ein Knochensplitter ragte scharf aus der Haut heraus, das verletzte Bein lag in einem unnatürlichen Winkel da, und Chassim stöhnte vor
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