Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
Schmerzen. Der Feldscher, ein graubärtiger, vierschrötiger Mann, der hinter Chassims Kopf stand und seine Ärmel hochkrempelte, nahm eine Schüssel mit Sägen und Zangen entgegen, die ihm ein junger Helfer durch den hinteren Eingang des Zeltes hereinreichte. Er hatte wohl gerade das Beinkleid an der verletzten Gliedmaße auf Kniehöhe abgeschnitten, die Gräfin selbst kühlte die Stirn ihres Bruders mit einem nassen Lappen, den sie in eine Wasserschüssel tauchte, und hielt Chassims rechte Hand.
Alle Augen musterten Anna, als sie im Eingang des Zeltes stehen blieb und sich orientierte. Der Graf war anwesend, Gero von Hochstaden und noch eine Handvoll weiterer Herrschaften, die Anna nicht kannte. Gero von Hochstaden war in Kettenhemd und Harnisch, seinen Helm hatte er unter den Arm geklemmt. Anna schrak kurz zusammen, als sie ihn sah.
Die Gräfin sprach als Erste: »Gott sei Dank, Medica – bitte tut etwas. Mein Bruder hat große Schmerzen!« Sie hatte Tränen in den Augen.
Anna nickte nur kurz, deutete eine Verbeugung an und trat dann sofort an Chassims Liege, wo sie seine ausgestreckte Hand ergriff.
»Medica«, stöhnte er, »Medica. Ich bin vom Pferd gefallen.«
Sie wäre fast in Tränen ausgebrochen, als sie seinen jämmerlichen Zustand sah, aber sie war hier, um ihm so rasch wie möglich Linderung und Hilfe zu bringen. Sie beugte sich zu ihm hinunter und sagte mit fester Stimme: »Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte, Herr. Bitte schont Eure Kräfte, nur eines erklärt mir: Habt Ihr Euch noch an anderen Stellen verletzt, außer am Bein?«
»Nein«, antwortete Chassim schwach. »Aber mein Bein ist wohl nicht mehr zu retten. Sagt mir die Wahrheit, Medica. Ich wollte auf Euer Urteil warten, der Feldscher war schon daran, es mir abzunehmen.«
Sie nickte, stand auf und sah dem Feldscher in die Augen. Der starrte feindselig zurück und griff nach der Säge.
»Kann ich jetzt mit Eurer gnädigen Erlaubnis anfangen«, sagte er spöttisch. »Oder wollt Ihr vielleicht warten, bis der Graf verblutet?«
Einen kurzen Moment lang war die Anspannung unter den Anwesenden förmlich mit der Hand zu greifen. Alles wartete auf die Antwort der Medica.
Anna sah in die Runde und verkündete ruhig, aber bestimmt: »Ich danke Euch, dass Ihr dem Grafen Beistand geleistet habt. Aber jetzt muss ich die Herrschaften dringend bitten, das Zelt zu verlassen. Wir müssen ihn behandeln und dazu brauchen wir Platz. Bitte, um Junker Chassims willen!«
Es war eng im Zelt, die Anwesenden traten sich fast gegenseitig auf die Füße. Dennoch, was Anna gerade gesagt hatte, war angesichts der Tatsache, dass es sich im Zelt fast ausschließlich um Angehörige von Stand handelte, eine ungeheuerliche Anmaßung. Aber Anna fuhr ungerührt fort: »Der Feldscher kann hierbleiben, ich muss mit ihm reden.«
Anna kümmerte sich nicht weiter darum, was die Anwesenden denken oder sagen mochten, sie besah sich jetzt die klaffende Wunde im Unterschenkel, den herausstehenden Knochen, das Blut und blickte nur kurz hoch, als Bruder Thomas endlich hereinplatzte und im Eingang des Zeltes stehen blieb. Dann band sie mit ihrem Gürtel Chassims Oberschenkel ab, um die Blutung zum Stillstand zu bringen.
Die Gräfin fasste sich als Erste. Sie erhob sich.
»Ich denke, die Medica hat recht. Ich kenne sie sehr gut, sie hat mir das Leben gerettet und wird wissen, was sie tut. Und ich weiß, sie gibt ihr Bestes.« Den letzten Satz richtete sie mit einer inständigen Aufforderung im Blick direkt an Anna. »Bitte, meine Herren, folgt mir. Wir können jetzt ohnehin nicht mehr helfen. Es liegt nun alles in Gottes Hand.«
Sie breitete die Arme aus und winkte die anderen aus dem Zelt. Bruder Thomas trat einen Schritt beiseite, verneigte sich und ließ die Herrschaften passieren.
Bevor auch sie das Zelt verließ, beugte sich die Gräfin noch zu Anna hinunter und flüsterte ihr ins Ohr: »Tut alles, um sein Bein zu retten, Medica!«
Anna drückte Chassim die Hand und sagte: »Ihr werdet gleich keine Schmerzen mehr haben und schlafen.«
Dabei nickte sie Bruder Thomas zu, der nach einem Blick auf Chassim in Windeseile alles, was er für das folgende Procedere für nötig hielt, auf einem Tuch ausbreitete, das er auf dem Boden vor der Liege aufschlug. Nebenher rief er dem Pferdeknecht zu, der seinen Kopf besorgt zum Eingang hereinstreckte: »Bring mir sauberes Wasser, geschwind!«
Anna wandte sich nun dem Feldscher zu, der betont aufreizend mit seiner Säge
Weitere Kostenlose Bücher