Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
Bruder Thomas tupfte das Blut weg, und Anna untersuchte sie noch einmal, bis auch das letzte Sandkorn und Splitterchen entfernt war. Es folgte der schwierige Teil, das Bein musste wieder eingerichtet werden. Anna stieß innerlich ein Dankgebet für Aaron aus, dass er ihr den Umgang mit dem Schlafschwamm beigebracht hatte, der es Chassim ersparte, mit einem Stück Holz zwischen den Zähnen die unmenschlichen Schmerzen ertragen zu müssen, die er schon bei der bloßen Berührung der offenen Wunde gespürt hätte. Zum Glück war nur das Schien- und nicht auch noch das Wadenbein gebrochen. Mit vereinten Kräften und unter größter Vorsicht brachten Anna und Bruder Thomas Muskeln, Sehnen und Knochen in die richtige Lage, ohne noch mehr Blutungen oder Verletzungen zu verursachen. Der Knochen war nicht gerade, sondern schief gebrochen, so dass Anna die schräge Bruchstelle wieder zusammenfügen und stabilisieren konnte, indem sie beide Teile des Knochens zusammenpresste und so fest wie möglich mit reißfester Tiersehne umwickelte, während Bruder Thomas die Wundränder mit Haken auseinanderzog. Zusammenwachsen musste das Schienbein von selbst, die abgesplitterten Teile konnte Anna natürlich nicht wieder einfügen, aber mehr zu tun war nicht möglich. Sollte der Knochen wieder gut heilen, würde Chassim wahrscheinlich zeit seines Lebens hinken, aber das war mehr, als man sich nach dem ersten Augenschein erhoffen durfte. Anna nähte die klaffende Wunde zu, und anschließend fixierte sie das Bein mit vier armlangen Lanzenstücken, nachdem sie die Wunde vorher straff mit sauberen Leintüchern verbunden hatte. Die vier Holzstöcke zurrte sie mit Schnüren fest.
Als sie endlich fertig waren, wuschen sich Anna und Bruder Thomas erschöpft die Hände. Dann schlug Bruder Thomas die Plane über dem Eingang zurück und sorgte für ein wenig Durchzug im Zelt. Nachdem Anna noch einmal Chassims Atem und Herzschlag überprüft hatte, folgte sie Bruder Thomas nach draußen, um ein wenig frische Luft zu schöpfen.
Es wurde allmählich dunkel, und eine leichte, erfrischende Brise wehte. Niemand war in der Nähe. Anna gab Bruder Thomas die Hand.
»Danke. Ohne Euch hätte ich es nicht geschafft«, sagte sie.
Bruder Thomas setzte sich erst einmal auf ein Stück Baumstamm. Anna nahm neben ihm Platz. Erst jetzt wurde ihr bewusst, was sie eben mit Chassim gemacht hatte und welche Verantwortung sie damit übernahm. Sie zuckte leicht zusammen, als Bruder Thomas fürsorglich seine Hand auf die ihrige legte.
»Ihr habt gute Arbeit geleistet«, sagte er. »Mehr kann man nicht tun. Jetzt müssen wir abwarten.« Als keine Antwort kam, sah er ihr ins Gesicht. »Ihr mögt ihn sehr, nicht wahr?«
Anna schluckte, sie musste sich bei seiner unerwarteten Frage zusammennehmen, um nicht in Tränen auszubrechen, weil er damit mitten ins Schwarze getroffen hatte. Aber zwei Tränen stahlen sich doch hervor, die eiligst von ihr abgewischt wurden. Dann nickte sie zaghaft. Vor Bruder Thomas konnte sie ihren inneren Zustand wohl kaum verheimlichen, dabei hatte sie immer gedacht, er verstünde nichts von derlei Dingen. Er kramte ein frisches Tuch heraus und gab es ihr. Anna schnäuzte kräftig hinein.
Zaghaft näherten sich die zwei jungen Pferdeknechte, die abseits gewartet hatten.
Anna fragte sie: »Wart ihr dabei, wie es passiert ist? Den Unfall mit eurem Herrn – habt ihr ihn mit eigenen Augen gesehen?«
Die beiden Burschen warfen sich gegenseitig einen unsicheren Blick zu, und dann antwortete der mit den Sommersprossen.
»Ja, wir waren dabei bei der Tjost . Wir mussten unserem Herrn doch die Lanzen reichen. Es geschah beim letzten Waffengang. Unser Herr wäre bestimmt Sieger geworden, wenn das nicht passiert wäre«, sagte er mit betretener Miene.
»Wir können nichts dafür. Wirklich nicht. Ihr müsst uns glauben, Medica. Wir haben alles so gemacht wie immer! Ich habe aufgesattelt und alles noch mal sorgfältig überprüft, wie ich es stets tue«, fügte der andere im Ton der schieren Verzweiflung hinzu.
»Niemand macht euch einen Vorwurf. Jetzt sagt schon – was genau ist geschehen?«, ermunterte sie Anna.
Der Sommersprossige übernahm wieder. »Unser Herr hat seine Lanzenstechen alle gewonnen. Dann kam der letzte und entscheidende Kampf um den Siegespreis.«
»Gegen wen musste er antreten?«
»Gegen Baron Meinhard von Geldern.«
»Wer ist das? Kenne ich ihn?«
»Er war vorhin mit im Zelt. Der Ritter mit dem roten Bart. Er war sehr
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