Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
kühnsten Träumen hätte vorstellen können. Aber andererseits … sie war so verwirrt, dass sie nicht mehr denken konnte. Kurz entschlossen tauchte sie unter und hielt die Luft an, bis sie nicht mehr konnte und prustend auftauchen musste. Doch das machte ihren Kopf auch nicht klarer. Sie befingerte das Kettchen mit dem Kreuz, das sie nicht abgelegt hatte, als sie ins Wasser gestiegen war. Einerseits – andererseits. Was sollte sie nur tun? Wie sollte sie sich Chassim gegenüber in Zukunft verhalten? Wie sie es drehte und wendete, es führte zu nichts. Sie musste nachdenken, nachdenken … aber sie schaffte es nicht.
Das Vollbad und die duftende Seife hatten heute nicht die beruhigende und sedierende Wirkung wie sonst. Energisch stand sie auf, trocknete sich ab, bis ihre Haut rot war, und fasste einen Entschluss: Sie würde am nächsten Tag nicht auf das Turnier gehen. Auf keinen Fall wollte sie zusehen, wie Chassim von seinem Pferd gestoßen wurde oder ihm noch Schlimmeres passierte. Allein der Gedanke daran war unerträglich. Natürlich, vielleicht ging Chassim ja auch als strahlender Sieger vom Platz. Sie wünschte es ihm von Herzen. Aber auch dann wäre es nicht leicht, ihm zu begegnen. Nein, vorläufig war es angebracht, für sich zu bleiben. Sie schlüpfte in eine frische Tunika und verzog sich in ihre Schlafstube, um sich in ihre Studien zu vertiefen, bis die Müdigkeit und der erlösende Schlaf kommen würden.
* * *
Gero saß in seinem Zelt und lauschte. Es musste weit nach Mitternacht sein, die zu ihm herüberziehenden letzten Gesangs- und Musikfetzen, vereinzelte Schreie und das Gelächter von den Lagerfeuern waren verebbt. Gero hatte an der Feldmesse teilgenommen und sich anschließend ausnahmsweise beim Trinken zurückgehalten, dann seinen Waffenrock und seine zahlreichen Holzlanzen noch einmal überprüft. Bei der am nächsten Tag stattfindenden Tjost, bei der um Punkte gekämpft wurde – einen gab es für einen Treffer am Körper und zwei, wenn der Gegner aus dem Sattel geworfen wurde –, kam es zuweilen schon vor, dass man Dutzende von Lanzen verbrauchte.
Am Nachmittag war er bei der Auslosung der jeweiligen Kampfpaarungen dabei gewesen. Er hatte einen unbekannten Gegner bekommen. Da er davon ausging, den Kampf für sich zu entscheiden, würde er früher oder später wahrscheinlich auf Junker Chassim treffen. Bei der Tjost kam nur der jeweilige Sieger mit drei Punkten weiter, und Gero zweifelte nicht daran, dass Chassim von Greifenklau es bis in eine der letzten Runden schaffen würde, er war als glänzender Turnierkämpfer bekannt. Aber so weit würde es Gero nicht kommen lassen, obwohl er gern auf ihn getroffen wäre und ihm gezeigt hätte, was es hieß, eine Lanze zu führen.
Jetzt spähte er aus seinem Zelt. Die Luft war rein, und ein dreiviertel Mond stand am Firmament. Genügend Licht für das Vorhaben, das er im Schilde führte. Gero verließ seinen Schlupfwinkel und achtete sorgfältig darauf, nicht über die Spannschnüre der Zelte zu stolpern, schlich dann an Junker Chassims Zelt vorbei, sein scharfes Messer, das er immer bei sich hatte, in der rechten Faust. Hinter Chassims Zelt ging er weiter bis zur Pferdekoppel, die bewacht war. Die Wache war, wie er vermutet hatte, am noch glimmenden Lagerfeuer eingeschlafen und schnarchte leise. Die Pferde witterten ihn, eines schnaubte leise. Gero blieb stehen und horchte, aber die Wache regte sich nicht.
Rasch eilte er weiter am Zaun der Koppel entlang, bis er zu der Stelle kam, an der die Sättel der Ritter auf mehreren Stangen aufgereiht waren. Er suchte, bis er den Sattel mit dem Wappen der Greifenklaus gefunden hatte. Dann begann er, den Bauchgurt sorgfältig mit seinem Messer zu bearbeiten. Der Pferdeknecht durfte beim Aufsatteln nichts davon bemerken. Daher schnitt Gero den Gurt an der Nahtstelle an, die am Übergang vom Gurt zum Sattel auf der Unterseite lag. Der Gurt würde eine Weile halten, er hoffte, bis zum Lanzenstechen mit ihm, aber wenn er riss, würde der darauf sitzende Ritter unweigerlich mitsamt dem Sattel vom Pferd stürzen.
Gero überprüfte sein Werk noch einmal und machte dann, dass er ungesehen wieder in sein Zelt kam.
XII
A m nächsten Morgen, als Anna, Berbelin und ein seltsam wortkarger und schlechtgelaunter Bruder Thomas später als sonst beim Frühstück saßen, klopfte es plötzlich an die Haustür. Und zwar so energisch und ausdauernd, dass alle drei heftig zusammenfuhren. Die Tür war nicht
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