Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
Destillat war, und sperrte die Tür auf. Sie sah Bruder Thomas stöhnend in einer Blutlache am Boden liegen und Chassim, der verzweifelt mit seinem Krückstock die Schwerthiebe zu parieren versuchte, die der lachende Gero nur schwach ausführte, weil Chassim ohnehin schon in der Ecke kauerte und nur noch ein Spielball war, bis Gero zum finalen Schlag mit der rechten Hand ausholen und ihm den Garaus machen würde. In der linken Hand hielt er immer noch die brennende Fackel, mit der er jetzt nach Chassim stieß, wie um ein wildes Tier in die Enge zu treiben.
»He, Vetter Gero!«, rief Anna so laut sie konnte, und machte mit ihrem Eimer ein paar Schritte auf ihn zu.
Gero drehte sich zu ihr um. »Jetzt schicke ich dich dahin, woher du gekommen bist. Nämlich in die Hölle, du Hexe!«, sagte er und kam mit Schwert und Fackel auf sie zu.
»Dabei lasse ich dir gerne den Vortritt, Vetter!«, entgegnete Anna und schüttete ihm den Inhalt des Eimers, reines Aqua Vitae, direkt ins Gesicht und über die Brust.
Das Aqua Vitae entzündete sich sofort an der Fackel, und im selben Augenblick überzog eine klare bläulich-gelbe Flammen- Aureole Geros Gesicht und Torso . Abrupt blieb er stehen, bis er begriff, was da vor sich ging und dass er bereits lichterloh brannte. Er wollte nach Luft schnappen, aber dabei sog er nur brennendes Aqua Vitae in seine Lunge, röchelte gurgelnd, ließ Schwert und Fackel fallen und fing an, wie ein tödlich verwundeter Stier zu brüllen. Mit ausgestreckten Händen taumelte er auf Anna zu, als wolle er sie im letzten Moment noch erwürgen. Die Flammen züngelten schon auf seinem Kopf, seinem Bart und seiner Kleidung, und seine Gesichtshaut warf Blasen. Er sah aus wie ein Dämon aus dem Höllenpfuhl. Flammen umwaberten ihn, aber er wankte immer noch weiter. Anna wich ihm aus, und der brennende Gero stolperte blind in das Laboratorium, wo er als menschliche Fackel kopfüber mitten in den knietiefen Haufen aus Pergament, Holz, Kräutern, Pulvern und sonstigen Arzneimitteln fiel, den die Soldaten zurückgelassen hatten. Der Haufen war knochentrocken und stand sofort in Flammen.
»Raus«, schrie Anna, »wir müssen hier raus!«
Sie half Chassim auf, der anscheinend unverletzt war, und zusammen zogen sie Bruder Thomas hoch, der sich mit ihrer Hilfe stöhnend aufrappelte. Zu dritt, sich gegenseitig stützend und schleppend, schafften sie es ins Freie, als ein dumpfer Knall zu hören war, dem eine heftige Explosion von solchem Ausmaß folgte, dass das halbe Haus in einem Flammenball in die Luft flog.
Die Detonation war so heftig, dass Anna, Chassim und Bruder Thomas vom Luftdruck zu Boden gerissen wurden. Es regnete Glas-, Holz- und Mauersplitter über die drei. Als sie endlich benommen aufsahen, züngelten die Flammen aus den traurigen Mauerresten empor, die vom Haus übriggeblieben waren, und pechschwarzer Qualm quoll gen Himmel. Es hatte angefangen zu regnen.
»Das muss das schwarze Pulver gewesen sein, vor dem mich der Medicus gewarnt hat«, sagte Anna.
* * *
Die Morgendämmerung hatte eingesetzt, rötlicher Schimmer am östlichen Horizont verdrängte die Dunkelheit. Die Luft war kühl und frisch. Es roch nach Wasser. Die Fluten des Rheins seufzten geheimnisvoll, als sie in aller Herrgottsfrühe übersetzten. Die Fähre glitt ruhig und gemächlich auf das jenseitige Ufer zu. Anna, Chassim, Bruder Thomas, Berbelin, Caspar und die zwei Pferdeknechte waren die einzigen Passagiere des Fährmanns.
Anna und Chassim sahen Arm in Arm in die aufgehende Sonne, ihre Haare wehten in der leichten Brise.
Bruder Thomas saß auf dem Wagen, der für die Überfahrt mit Seilen an der Fähre festgezurrt worden war, und hatte seinen Kopf in Berbelins Schoß gebettet. Er hatte einen tiefen Stich vom Schwert Geros in der Schulter davongetragen, aber es war zum Glück nur eine Fleischwunde, die Anna fachgerecht versorgt und verbunden hatte. Sie schwiegen und bestaunten Gottes herrliche Schöpfung, wie sie im Licht der aufgehenden Sonne Konturen annahm. Nur Caspar blickte nachdenklich zurück, wo das andere Ufer im Nebel verschwand.
Anna war müde und grenzenlos erschöpft. Gott hatte sie in diesem Jahr geprüft, damit sie erwachsen werde und lernte, wozu sie fähig und wofür sie bestimmt war. Und nun? War sie wirklich zur Medica geboren? Ja, es musste so sein. Endlich wusste sie mit letzter Gewissheit, wer sie war und was sie wollte.
Sie warf Chassim von der Seite einen heimlichen Blick zu, zog seinen Kopf zu
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