Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
Landstraße einmündete, schnitt Anna Glöckchen um Glöckchen ab und warf sie in hohem Bogen neben die Straße. Dann gab sie Aaron den Dolch zurück.
»Schon besser«, nickte Aaron und steckte den Dolch zufrieden weg. »Und jetzt könntest du mir eigentlich erzählen, was es mit dir auf sich hat.«
Anna zögerte. Sie hatte keinen Plan, keinen Ort, wohin sie gehen, niemanden, auf den sie zählen konnte. Oder vielleicht doch? Sie sah den Medicus von der Seite an. Sollte sie ihm vertrauen? Was hatte sie schon zu verlieren? Wenigstens ihre Klostergeschichte konnte sie ihm offenbaren.
»Ich bin wegen der Lepra aus meinem Kloster verstoßen worden und kann mich eigentlich nirgends mehr blicken lassen. Solange ich nicht eine Dispens von der Kirche bekomme, dass ich wieder ganz gesund bin und unter die Menschen darf, bin ich nach wie vor vogelfrei.«
»Du hast die Dispens ausdrücklich von mir!«, sagte Aaron entschieden.
»Ihr spottet, Herr!«, wagte Anna zu widersprechen.
»Das war nicht meine Absicht. Du kannst es dir ja überlegen, ob du dir, wenn du wieder ganz gesund bist, eine Dispens einholst. Aber dann werden sie dich genau überprüfen.«
Anna seufzte. »Ja, das befürchte ich auch.«
»Willst du das?«
Sie schluckte, dann schüttelte sie entschieden den Kopf. »Nein. Ich glaube nicht.«
»Das scheint mir sehr vernünftig. Denn egal, wie eine kirchliche Kommission entscheidet: Es würde einen ziemlichen Wirbel um deine Person geben. Entweder, sie bezeichnen es als Hexenwerk, dass du so plötzlich wieder gesund geworden bist, oder es ist ein Wunder, das wie ein Lauffeuer durch das ganze Land gehen wird. Du würdest zur lebendigen Reliquie werden, die alle sehen und berühren wollen.«
Anna blickte Aaron schreckensstarr an. Er hielt ihrem Blick stand, bis sie die Augen niederschlug und nickte. Sie musste seinen Schlussfolgerungen recht geben. Dieser Medicus hatte einen Verstand, der scharf war wie ein Badermesser. Und er ließ nicht locker.
»Wäre es nicht an der Zeit, Bruder Marian, dass du mir sagst, wer du bist, woher du kommst und was du vorhast?«
»Das sind viele Fragen auf einmal«, antwortete Anna schließlich nach langem Zögern.
»Es steht dir natürlich frei, sie zu beantworten«, sagte der Medicus. »Aber ich habe das Gefühl, du hast etwas auf dem Herzen, was du loswerden möchtest.«
Anna bekam es allmählich mit der Angst zu tun. Ihr neuer Begleiter schien in ihr lesen zu können wie in einem Buch.
»Steht mir das auf der Stirn geschrieben?«, fragte sie verunsichert.
Aaron sah sie von der Seite mit einem leichten Lächeln um die Mundwinkel an.
»Pass auf«, sagte er. »Mir kommt das wie eine seltsame Fügung vor, wenn mir ein junger Mönch mit Lepraglöckchen und unglücklichen Augen über den Weg läuft und mir das Leben rettet. Mit Augen übrigens, die mir gleich aufgefallen sind. Verschiedene Farben. Das habe ich noch nie gesehen. Eine außergewöhnliche Anomalie.«
»Ihr nennt es Anomalie. Die meisten sagen, es ist der böse Blick.«
Aaron kicherte in sich hinein. »Ja, weil die meisten Leute einfältig und dumm wie Bohnenstroh sind und alles glauben, was ihnen die Kirche sagt.«
Anna warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Ihr seid Jude, nicht wahr?«
»Von Geburt an und bis ich sterbe«, antwortete Aaron ernst, langte hinter sich und holte ein seltsames Gebilde hervor, das er nachdenklich betrachtete und in seiner Hand drehte. Es war ein konisch zulaufender breitkrempiger Hut mit einem Knauf auf dem Scheitel. »Du hast meinen Hut gesehen?«, fragte er.
Anna nickte.
»Vielleicht sollte ich ihn wieder aufsetzen. Wir kommen allmählich in die Nähe der Stadt«, seufzte Aaron.
»Welche Stadt?«
»Oppenheim.« Aaron setzte sich den Hut auf den Kopf. Anna sah, dass der Verband darunter wieder leicht blutig geworden war. Plötzlich nahm Aaron eine gespannte Haltung an und befahl ihr: »Zieh lieber deine Kapuze über. Ein alter Jude und ein junger Mönch mit Tonsur gemeinsam auf einem Kutschbock. Das scheint mir doch ein wenig gewagt zu sein.«
Sofort zog sich Anna die Kapuze tief in die Stirn, denn Aaron hatte dies nicht ohne Grund gesagt.
Es musste inzwischen Mittag sein, die Sonne stand hoch am Himmel. Am Horizont tauchte eine Staubwolke auf, aus der sich allmählich, je näher sie kam, ein halbes Dutzend bewaffneter Reiter mit ihrem Anführer, einem Ritter, herauslösten. Aaron zügelte seine Zugpferde und hielt an, während der Reitertrupp auf sie zusprengte und ihnen
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