Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
nahm sie ernst, alle lachten sie aus, wenn sie nur von ihrer Blume erzählte. Eine Krankheit war, so sagte die Kirche, eine Strafe des Himmels für die Sündhaftigkeit des Menschen. Und wenn eine schlimme Krankheit nicht nur einen, sondern unzählig viele Menschen befiel, war deren Sündhaftigkeit eben entsprechend groß gewesen. Damit wollte sich Anna aber nicht abfinden. Wenn sie nur diese Blume fände, dann könnte sie allen beweisen, dass sie recht hatte und Gott eben doch ein Kräutlein gegen jede Krankheit hatte wachsen lassen!
Sie suchte im ganzen Land, auf schneebedeckten Bergen, in unwirtlichen und staubigen Ebenen und kam in Länder, die sie noch nie gesehen hatte. Aber nirgendwo wuchs diese Blume, die klein und unscheinbar war, mit blauen Blütenblättern. Sie fragte jeden Menschen, der ihr begegnete, keiner kannte die Blume. Erschöpft legte sie sich schließlich unter einen Baum, um auszuruhen.
Da sah sie in der Ferne einen Reiter auf einem schwarzen Ross herangaloppieren. Ein Ritter mit langen schwarzen Haaren und edler Gestalt, in einem flatternden Umhang, dessen Gesicht sie gegen das Sonnenlicht nicht erkennen konnte. Er hielt vor ihr an und beugte sich zu ihr hinunter. In seiner Rechten hielt er die Blume, die sie so lange und vergeblich gesucht hatte. Aber immer, wenn sie in sein Gesicht sehen und nach der Blume fassen wollte, mit einem unendlichen Gefühl des Glücks, dass es auf der Welt jemanden gab, der sie gefunden hatte, war der Traum zu Ende. Und sie wachte mit einem furchtbar schalen Gefühl der Enttäuschung auf.
Aber ein Traum war eben nur ein Traum. Es war dumm und töricht, auch nur zu glauben, sie könnte als Frau und Medica respektiert und anerkannt werden. Andererseits – träumen durfte man ja wohl noch. Einmal hatte sie sich deswegen Pater Urban anvertraut. Der hatte, traurig über ihren Hochmut, den Kopf geschüttelt und ihr erklärt, dass die von Gott eingesetzte Ordnung nun einmal nicht so beschaffen und die Bestimmung der Frau die einer Mutter und Ehefrau war, außer sie ging in ein Nonnenkloster und wurde die Braut Jesu Christi.
Anna wollte weder das eine noch das andere. Hatte Pater Urban ihr nicht auch gesagt, dass erst die Möglichkeit, seinen Traum zu verwirklichen, das Leben lebenswert machte? Nein, das konnte er nicht gesagt haben. Das hätte all dem widersprochen, was sein Leben und seinen Glauben ausmachte, und wäre in seinen Augen einer Gotteslästerung gleichgekommen. Jeder Mensch hatte dem zu folgen, was Gott der Herr für ihn bestimmt hatte. Das war sein Credo gewesen, und davon wäre er niemals abgewichen. Aber wer hatte dann diesen Satz zu ihr gesagt, der ihr immer wieder durch den Kopf geisterte? Ihr Vater womöglich, als er sie vor so vielen Jahren nach Heisterbach gebracht hatte? Ja, so musste es gewesen sein! Obwohl sie damals noch so klein war, dass sie sicher nicht den Sinn dessen verstanden hatte, was er ihr als Abschiedsworte mit auf den Weg gab. Aber der Satz hatte sich ihr eingeprägt: Erst die Möglichkeit, deinen Traum zu verwirklichen, macht das Leben lebenswert.
Und dann hatte er noch etwas hinzugefügt: Unsere einzige Verpflichtung besteht darin, unseren persönlichen Lebensweg zu erfüllen. Vergiss das nie!
Je älter sie wurde, desto mehr Wahrheit beinhalteten diese Sätze für sie. Und desto weiter entfernte sie sich mit den Jahren von deren Verwirklichung. Sie konnte nur als junger Mönch verkleidet unter der Obhut des Infirmarius das tun, was ihr am meisten am Herzen lag : kranken Menschen Linderung und Heilung zu bringen. Mit den Jahren wurde ihr immer heftiger bewusst, dass sie als weibliches Wesen, ohne adlige Herkunft oder die schützende Hand eines Mannes von Stand, ein Nichts war. Und niemals den Traum, als Medica zu arbeiten, würde verwirklichen können. Schon gar nicht als die junge Frau, die sie nun mal war. Als Anna aus Ahrweiler.
Sie hob ihre Hände aus dem Badewasser und sah, dass sie schon ganz schrumpelig waren, so lange lag sie bereits im Badebecken und hatte sich ihren Träumereien hingegeben. Doch gleichzeitig staunte sie: Ihre Handrücken sahen schon viel besser aus, nachdem sie vom Dreck und den Krusten gereinigt und der Tinktur des Medicus ausgesetzt worden waren.
Anna tauchte noch einmal ganz unter. Es konnte keine Sünde sein, auch als Frau den Gedanken von Freiheit und einem lebenswerten Leben nachzuhängen, oder? Als sie wieder auftauchte, befühlte sie ihre Tonsur . Auf dem einst kahlgeschorenen Schädel
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