Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
wie es sich gehört hätte. Esther und Rebecca versuchten, die Feiertage und die dazugehörigen Rituale einzuhalten, und Aaron fügte sich dem, was sie auftischten, ohne große Widerrede. Er freute sich auch darüber, wenn Kerzen angezündet wurden und Esther ein Gebet sprach. Aber wenn ihn die religiösen Vorschriften an seiner Arbeit, den Forschungen in seinem Laboratorium und den Behandlungen kranker Menschen hinderten, ließ er Vorschrift Vorschrift sein und tat, was er tun musste. Sein Grundsatz lautete: Zuerst kommt der Mensch und sein Leid, dann erst die religiösen Regeln, die er stets so interpretierte, dass sie ihm nicht in die Quere kamen. Anfangs tat sich Esther schwer, diese Eigenart des Medicus zu akzeptieren. In einem Gespräch mit dem Rabbi von Oppenheim hatte sie sich darüber beklagt, dass ihr Bruder die jüdischen Gesetze stets zu seinen Gunsten auszulegen verstand. Aber der Rabbi hatte sie beruhigt: Solange Aaron Gutes tat, stand das durchaus im Einklang mit dem Talmud und war auch in den Augen Jahwes wohlgetan.
Im Laufe der Zeit war es Esther gelungen, durch ihre resolute Art und ihre durch nichts zu erschütternde Ruhe und Gelassenheit mit jeder noch so heiklen Situation fertig zu werden, was im Haushalt eines eigenwilligen Medicus bitter vonnöten war, denn Aarons Tage wurden ganz von seinen Patienten in Anspruch genommen, die seinen Rat oder eine Arznei benötigten.
Aaron überließ ihr gerne die Verantwortung über die alltäglichen Dinge, mit denen er nichts zu schaffen haben wollte. Und sie hatte sein Vertrauen noch nie missbraucht.
Esther ging auf den Markt, sie konnte lesen und schreiben und führte akribisch ein Haushaltsbuch, in dem sie jeden Einkauf notierte, sie kassierte nach Absprache mit Aaron von seinen Patienten und hielt Rebecca auf Trab, die für Essen, Wäsche und Sauberkeit im Haus zuständig war und gelegentlich jemanden brauchte, der ihr über die Schulter sah.
Alles in allem führten sie ein angenehmes Leben, und Esthers größte Sorge war, dass es auch bei diesem Zustand blieb.
Nur diese Sache mit Nikolas wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Esther vermisste den Diener. Nicht weil sie, im Gegensatz zu Rebecca, etwa heimlich ein Auge auf ihn geworfen hatte. Aber in diesen unsicheren Zeiten war es immer gut, einen kräftigen Mann im Haus zu wissen, der schon allein mit Stimme und Statur dafür sorgen konnte, dass niemand ihr, Rebecca oder dem Medicus frech kam.
Und jetzt war Nikolas weg, und ihr Bruder brachte stattdessen einen neuen, blutjungen Famulus von seiner langen Reise mit. Wo er den bloß aufgelesen hatte? Dieses schmächtige, auch noch christliche Bürschlein mit seinen verschiedenfarbigen Augen, die ihr gleich aufgefallen waren. Obendrein war er vorlaut und hatte es wohl mit seiner großen Klappe irgendwie geschafft, sich beim Medicus einzuschmeicheln. Das konnte auf Dauer nicht gut gehen. Sie sah die Schwierigkeiten, die sich ergeben würden, schon vor sich. Christlichen Dienstboten war es untersagt, in einem jüdischen Haushalt zu arbeiten. Zwar hatte der Medicus eine vom Kaiser verliehene Sonderstellung, aber wenn einer der zahlreichen Neider und christlichen Fanatiker auf zu viele Verstöße gegen geltendes Recht verweisen konnte, dann würde man Aaron früher oder später einen Strick daraus drehen.
Wenn Esther ihren Bruder darauf ansprach, lachte er nur darüber. Doch im Ghetto, das sie und Rebecca gelegentlich aufsuchten, munkelte man bereits von drohenden Ausschreitungen. Es waren nur Gerüchte, sicher, und diese Gerüchte flackerten immer wieder beim nichtigsten Anlass auf. Bisher hatten sie sich – Jahwe sei Dank! – nicht bewahrheitet. Aber die Ruhe war trügerisch. Es brodelte überall im Reich, der Stauferkaiser Friedrich II. setzte keinen Fuß auf deutschen Boden, und sein Sohn und designierter Nachfolger, Konrad IV., sah sich einer immer stärker werdenden Gegenbewegung der Welfen gegenüber, der sich jetzt auch noch der mächtige Erzbischof von Köln, Konrad von Hochstaden, angeschlossen hatte, wie zu hören war.
Ein gewaltiger Sturm konnte jederzeit über das Land hereinbrechen. Und man musste mit dem Schlimmsten rechnen, nämlich Vertreibung und Mord – damit hatten alle jüdischen Gemeinden in Europa seit Generationen zu leben gelernt.
Doch es gab noch weitere schlechte Zeichen. Viele adlige und geistliche Herren hatten sich bei ihren jüdischen Geldverleihern hoch verschuldet. Und war es nicht schon immer ein bewährtes Mittel
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