Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
Anlagen dazu hast du.«
»Was ist es dann?«, wollte Anna wissen. »Sollte ich Euch in euren religiösen Gefühlen verletzt haben, war das ganz bestimmt nicht meine Absicht. Sondern einzig und allein meine Unwissenheit über Eure Gebräuche und Sitten.«
»Auch das ist es nicht, nein. Ich bin darüber enttäuscht, dass du mir immer noch nicht vertraust. Im Gegensatz zu dir habe ich mich vollkommen in deine Hände begeben, als ich mich von dir behandeln ließ. Warum erwiderst du dieses Vertrauen nicht?«
Anna spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, und hasste sich dafür, dass sie ihre Schuldgefühle nicht besser verbergen konnte.
»Ich verstehe Euch nicht«, sagte sie unsicher.
»Oh doch, du verstehst mich sehr wohl«, sagte Aaron. Er beugte sich vor, fasste sie an den Schultern und sah ihr forschend in die Augen. Da sie ihm direkt gegenübersaß, konnte sie ihm nicht ausweichen und musste versuchen, seinem bohrenden Blick standzuhalten.
»Wovor hast du solche Angst, Bruder Marian?«, fragte Aaron leise. »Davor, dass dir jemand mitten ins Herz sieht und dein wahres Ich erkennt? Ist es das?«
Anna stiegen Tränen in die Augen. Sie versuchte, sie wegzublinzeln, aber dadurch liefen nur ihre Augen über und die Tränen kullerten über ihre Wangen. Trotzdem hielt sie seinem Blick stand und rührte sich nicht.
Aaron nahm ein sauberes Tuch aus der Tasche und tupfte ihr vorsichtig das Gesicht ab. »Ich will dir keine Angst machen. Ich werde dich nicht verraten, egal, was du angestellt hast. Ich bin Jude, vergiss das nicht. Und wir Juden wissen, was es heißt, gehetzt, verfolgt und verjagt zu werden. Ich habe größtes Verständnis dafür, dass du dich scheust, alles, was dich bedrückt, einem Fremden wie mir preiszugeben. Aber ich habe dir das Angebot gemacht, als mein Famulus zu lernen und zu arbeiten. Und du hast angenommen. Also haben wir einen Pakt. Bei der Arbeit als Medicus muss man sich jederzeit auf den anderen verlassen können. Jederzeit. Doch dann muss ich auch wissen, wer du wirklich bist. Und du bist nicht Bruder Marian. Hab ich recht?«
Er sah sie unverwandt an. Schließlich bröckelte der Damm, den Anna mit schier übermenschlicher Mühe und Selbstverleugnung von Kindestagen an in ihrem Inneren errichtet hatte. Sie schüttelte den Kopf unter weiteren Tränen, die sie nicht länger zurückhalten wollte und konnte, und schämte sich nicht, als die Wahrheit nur so aus ihr heraussprudelte. »Ich bin Bruder Marian. Und ich bin nicht Bruder Marian.«
»Sondern?«, fragte Aaron geduldig.
»Mein wirklicher Name ist Anna aus Ahrweiler. Ich bin ein Mädchen, und ich habe über zehn Jahre lang als Bruder Marian unter Mönchen im Kloster Heisterbach gelebt. Niemand durfte davon erfahren, nur meine Eltern und Pater Urban, Gott hab ihn selig, wussten Bescheid. Die ganzen Jahre über lebte ich mit der Angst, dass die Wahrheit eines Tages ans Licht käme und alle, die mich liebten und mein Geheimnis kannten, dafür bestraft werden würden. Aber jetzt … jetzt sind sie alle tot. Und es ist allein meine Schuld.«
Anna fing hemmungslos an zu schluchzen. Aaron legte väterlich den Arm um ihre Schultern, und allmählich beruhigte sie sich wieder, und ihr Schluchzen verebbte.
Der Medicus erhob sich, ging zu dem Sud, den er vorbereitet hatte, und goss ihn in einen Becher, den er Anna reichte. »Trink das.«
»Was ist das?«, fragte Anna misstrauisch und roch daran.
Aaron lächelte. »Du kannst es nicht lassen, was? Du willst allem immer auf den Grund gehen. Also, das ist ein frischer Sud aus Hopfen, Melisse und Johanniskraut. Er wird dich beruhigen.«
Anna sah ihn mit großen Augen an. »Ihr habt ihn schon vorher für mich zubereitet? Woher habt Ihr gewusst, dass ich ihn brauche?«
»Ich wäre ein schlechter Medicus, wenn ich das nicht geahnt hätte. Jetzt rede nicht so viel und trink!«
Anna holte einmal tief Luft und leerte den Becher in einem Zug. Sie stellte ihn auf den Tisch und sah Aaron mit geröteten Augen an. »Werdet Ihr mich jetzt dem Erzbischof ausliefern?«, fragte sie mit bangem Blick.
»Warum sollte ich das tun?«, fragte Aaron verwundert.
»Weil sie auch Euch aus dem Weg räumen, wenn sie erfahren, dass Ihr mich aufgenommen habt.«
»Wer ist ›sie‹? Warum sind alle hinter dir her? Was hast du angestellt?«
»Nichts«, sagte Anna und schnäuzte kräftig in Aarons Tuch, das er ihr in die Hand gedrückt hatte. »Außer dass ich unter falschem Namen und falschem Geschlecht zehn Jahre
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