Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
viele Krankheiten, gegen die noch kein Kraut gefunden war, wie Aaron manchmal sagte. Dennoch war er felsenfest davon überzeugt, dass die ärztliche Kunst eines Tages so weit sein würde, auch die schlimmsten Krankheiten zu heilen. Aber bis dahin würde noch viel Wasser den Rhein hinabfließen.
An seine Spötterei hatte sich Anna inzwischen gewöhnt, während er manchen Patienten damit irritierte. Das war wohl Aarons Art, mit all den Schmerzen und all dem Leid fertig zu werden, das ihm angetragen wurde. Anna war stets an seiner Seite, ob bei Patienten oder im Laboratorium, wenn er seine Ingredienzien oder Mischungen ausprobierte oder seine Vorräte herstellte. Anfangs wurde sie dabei noch misstrauisch von Esther beäugt, aber allmählich begann Aarons Schwester der neuen Famula zu vertrauen und kümmerte sich um ihr eigenes Metier, das Geldeintreiben.
Anna half ihrem Medicus auch in seinem Kräutergarten, den er nach dem heftigen Unwetter bei seiner Heimkehr wieder instand gesetzt und teilweise neu bepflanzt hatte. Aaron war erstaunt über Annas profunde Kenntnis, was Heilkräuter und ihre Wirkung anging, und ab und zu hatte er sogar ein Lob für sie übrig, auf das sie dann immer sehr stolz war.
Auch an das koschere Essen hatte sie sich schnell gewöhnt, und mit Aarons großzügiger Auslegung religiöser Vorschriften kam sie gut zurecht. Nie maßregelte er sie, weil es nichts zu maßregeln gab. Wenn sie einen Fehler gemacht hatte, sagte er es nicht vor den Patienten, sondern wenn sie unter sich waren. Und Anna bemühte sich, nie einen Fehler zweimal zu machen.
Wenn sie nach einem langen und anstrengenden Tag – und fast alle Tage waren lang und anstrengend – todmüde auf dem Bett in ihrer Kammer lag, betete sie manchmal. Nicht für sich, aber für ihre Eltern. Ihr kindlicher Glaube war ihr seit den Geschehnissen im Kloster abhanden gekommen. Das machte sie bisweilen traurig. Sie konnte nicht mehr unbeschwert Zwiesprache mit Gott halten, so wie sie es früher getan hatte. Immer noch haderte sie mit ihrem Schöpfer, auch wenn es Sünde war, so zu denken. Und so betete sie nicht mehr regelmäßig, wie sie das noch im Kloster getan hatte.
Dafür las sie sehr viel. Die Bibliothek des Medicus war außerordentlich umfangreich, und Aaron hatte ihr erlaubt, jedes Buch und jedes Manuskript zu lesen, das sie lesen wollte. Viele verstand sie nicht, oder sie konnte die Sprache nicht. Zwar beherrschte sie das Lateinische perfekt, aber manche Bücher waren auf Griechisch oder Arabisch oder Hebräisch geschrieben. Doch der Medicus war auch in den Sprachen ein Meister. Wenn sie etwas nicht verstand, fragte sie ihn, und er wurde nicht müde, ihr alles zu erklären, was er ihr erklären konnte. Seine Energie schien unerschöpflich. Nur manchmal, wenn es dunkel wurde, hatte er Schwierigkeiten mit den Augen. Bei Kerzenlicht benötigte er ein Glas, das er sich von einem Glasmacher hatte zurechtschleifen lassen, als Lesehilfe. Anna schaute einmal hindurch, es vergrößerte auf wundersame Weise die Buchstaben, wenn man es im richtigen Winkel über die Buchseite hielt. Wenn ihn nach einer Weile die Augen vor Anstrengung zu sehr schmerzten, bat er Anna, ihm vorzulesen, wobei es tatsächlich das eine oder andere Mal geschah, dass er dabei einnickte. Sobald sie es bemerkte und mit dem Vorlesen aufhörte, schreckte er aber auf und fand, dass es wohl an der Zeit sei, schlafen zu gehen.
So war denn alles wohlgetan, und Anna führte ein glückliches Leben im Haus des Medicus. Nur manchmal, wenn sie in ihrem Bett lag, die Kerze gelöscht hatte und die Gedanken schweifen ließ, wurde sie von einer großen Angst gepackt. Was, wenn nicht alles so blieb, wie es jetzt war? Eine seltsame Vorahnung packte dann ihr Herz wie eine eiserne Klammer, und während sie versuchte, wieder einzuschlafen, wurde die dunkle Woge, die sich auf sie zu wälzte, immer größer und bedrohlicher.
Dann stand sie auf, schlich in die Küche und bereitete sich einen Kräuteraufguss, den sie mit langsamen Schlucken trank. Nein, sie würde sich nicht unterkriegen lassen, egal was passierte. Mit diesem felsenfesten Vorsatz als letztem Gedanken kroch sie jedes Mal wieder auf ihre Strohmatratze und sank in Schlaf.
X
D er vierrädrige Karren mit Lutz und Oswald auf dem Kutschbock holperte die steinige und staubige Landstraße dahin, die sich entlang des Rheins auf einer Hügelkette nach unten wand. Die Sonne brannte vom Himmel, und Gero von Hochstaden, der auf einem
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