Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
auf.
»Zwillinge, sagt ihr?«, fragte sie mit strahlendem Gesicht.
»Ja«, erwiderte der Medicus.
Die Mutter war völlig erschüttert und hatte ihre Hände vor Überraschung vor den Mund gepresst. Sie sah Aaron mit einer seltsamen Mischung aus Furcht und Unglauben an und brachte schließlich die Frage heraus, die ihr vom Gesicht abzulesen war. »Woher wisst Ihr das? Könnt Ihr hellsehen?«
Aaron schüttelte den Kopf. »Ich konnte es fühlen und hören. Hellsehen kann ich nicht. Leider. Es würde meine Arbeit als Medicus wesentlich vereinfachen.«
Als die Mutter ihn verständnislos anstarrte, meinte der Medicus nur: »Ich werde jetzt das Mittel für Eure Tochter holen. Wartet hier.«
Er winkte Anna, ging in sein angrenzendes Laboratorium und suchte am Schrank mit den vielen kleinen Schubladen herum. »Was gibst du, wenn eine Patientin Bauchkrämpfe hat?«, fragte er Anna unvermittelt.
Anna überlegte kurz. »Fenchel und Kümmel.«
»Richtig«, meinte Aaron. »Ich gebe noch etwas Schöllkraut hinzu.«
Er nahm ein leeres Leinensäckchen und zog drei kleine Schubladen an seinem Riesenschrank auf. Dann griff er nach einem bereitliegenden Holzlöffel und hielt Anna das Leinensäckchen hin. »Fenchel, Kümmel, nicht zu viel, und Schöllkraut. Das wird die Bauchkrämpfe beruhigen.« Er gab jeweils mit dem Löffel die Zutaten nach Gutdünken in das Leinensäckchen und machte es zu.
Zurück in der Behandlungsstube, drückte Aaron der Schwangeren das Leinensäckchen in die Hand.
»Mischt es gut durch, gebt zwei Löffel davon in heißes Wasser, trinkt es nach Bedarf lauwarm, und ihr werdet euch besser fühlen.«
»Wie kann ich Euch danken?«, fragte die Mutter endlich.
»Indem Ihr Euch weiterhin liebevoll um Eure Tochter kümmert«, erwiderte Aaron und führte die Frauen hinaus. Der nächste Patient, der ungeduldige Tuchhändler mit der Gicht, wartete bereits vor der Tür und drängte herein.
So ging es den ganzen Tag, ein Patient gab dem nächsten die Klinke in die Hand. Anna hatte schon bald den Überblick verloren. Aber sie tat, was sie konnte – verband, tupfte, mischte Kräuter, gab Salbe in Tiegel, hielt Schlafschwämme bereit und Arme und Beine fest, wenn der Medicus mit dem Messer ein Geschwür herausschneiden musste, kurz: am Abend war sie vollkommen erschöpft.
»Geht es immer so stürmisch bei Euch zu?«, fragte sie den Medicus, als endlich der letzte Patient behandelt worden war.
»Nein«, antwortete Aaron schelmisch. »Heute ist ein besonders ruhiger Tag.«
Er lächelte, und Anna musste zurücklächeln.
Aber es dauerte nicht lange, da klopfte es schon wieder.
»Herein!«, sagte der Medicus und seufzte.
IX
E s war inzwischen Wonnemond geworden, aber der Hitze nach konnte es auch schon Heuert sein. In diesem Jahr war der lange Winter gleich in den Sommer übergegangen.
Anna arbeitete jetzt seit vier Wochen als Famula bei Medicus Aaron und wusste inzwischen, was es bedeutete, für so viele Patienten verantwortlich zu sein, wie es der Medicus war. Kranke, eingebildete Kranke, Reiche, Arme, Verletzte, Verzweifelte. Jeden Tag – bis auf den Sabbat – war sie von früh bis spät unterwegs oder hatte in Aarons Behandlungsstube Patienten zu behandeln. Gewiss, es gab auch einige, die den Medicus nur wegen eines Tranks oder einer Kräutermischung aufsuchten. Bei manchen hatte sie auch den Eindruck, sie seien nur wegen eines kleinen Schwätzchens gekommen. Aber auch für sie nahm sich der Medicus Zeit und hatte für jeden ein tröstendes Wort übrig, der plötzlich Witwer geworden war oder sonst jemanden verloren hatte, der ihm lieb und teuer war.
Am meisten bewunderte Anna ihn jedoch für seine Geduld, nie wurde Aaron laut oder fing an zu schimpfen. Von ihm ging eine Gelassenheit aus, die alle beruhigte, auch wenn sie aufgebracht oder in Panik seine Dienste in Anspruch nehmen wollten. Ruhig hörte er sich an, wo es zwickte, untersuchte, stellte Fragen nach Ausbruch und Verlauf einer Krankheit, gab Ratschläge und Arzneien, wo es nötig war, und wenn Anna etwas, was er tat oder sagte, nicht verstand, erklärte er es ihr anschließend unter vier Augen.
Sie hatte das Gefühl, in der kurzen Zeit, die sie jetzt bei ihm war, mehr gelernt zu haben als in all den Jahren im Kloster. Sie wollte ihrem verstorbenen Infirmarius kein Unrecht tun, aber es lagen doch Welten zwischen seinen und Aarons Heilmethoden. Sicher, es gab auch Niederlagen, wenn ein Patient starb, dem nicht mehr zu helfen war. Es gab so
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