Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
Schwager«, warf Chassim ein und legte beruhigend die Hand auf die Schulter des Grafen.
Also ist Chassim der Bruder von Graf Georgs Frau, dachte Anna, bevor sie sich vor dem Grafen verbeugte.
»Das ist die Famula des Medicus«, erklärte Chassim.
»Ich bin froh, dass Ihr hier seid, und danke Euch für euer Kommen. Hoffentlich ist es nicht schon zu spät«, sagte der Graf und eilte voraus.
»Ist das Fruchtwasser schon abgegangen?«, fragte Aaron unvermittelt.
»Ja, die Amme sagte so etwas. Ich habe schon den Burgkaplan gerufen, er hat ihr die Beichte abgenommen. Sofern das möglich war. Ottgild hat große Schmerzen«, antwortete der Graf. Dann blieb er kurz noch einmal stehen und hielt Aaron mit der rechten Hand auf.
»Bitte, Meister Aaron, helft meiner Frau. Rettet sie und das Kind. Ihr seid meine letzte Hoffnung. Tut Ihr das, dann erfülle ich Euch jeden Wunsch, so weit es in meiner Macht steht. Ihr könnt mich an mein Versprechen erinnern.«
Aaron erwiderte: »Ich tue immer, was ich kann, Graf. Aber ich danke Euch für Euer Vertrauen.«
Der Graf nickte, dann gingen sie weiter.
Langsam ahnte Anna, was auf sie zukam. Die Frau des Grafen, Ottgild, war guter Hoffnung, das hatte Aaron ihr einmal erzählt. Anscheinend waren sie gerufen worden, weil eine Fehl- oder Totgeburt drohte oder das Kind falsch lag. Und der Geheimgang zur Burg wurde offensichtlich immer benutzt, wenn Aaron gebraucht wurde, was niemand erfahren durfte. Schließlich war Aaron Jude, und der Graf würde sonst vor aller Augen zugeben, dass er einem jüdischen Medicus mehr vertraute als den herkömmlichen christlichen Hebammen, Badern und Quacksalbern.
Sie gelangten in die Vorräume der gräflichen Gemächer. Gedämpfte Schreie waren zu hören. Alle zuckten zusammen. Der Graf beschleunigte seine Schritte. Eine Kammerzofe mit einer Waschschüssel kam aus dem Hintergrund herangeeilt und verschwand hinter einer Tür. Sie durchschritten ein zweites Gemach. An den Wänden hingen schwere Wandteppiche, auf dem Boden waren Schilfmatten ausgebreitet, auf denen wohlriechende Kräuter lagen. Ihr Duft erfüllte die Luft: Lavendel, getrocknete Rosenblätter, Rosmarin. Endlich erreichten sie eine Tür, die wohl zum Schlafgemach führte. Eine ältere Dienerin saß in einem Stuhl daneben und bewachte sie, erhob sich aber sofort, als sie die drei Männer und die kleine Frau mit ihrem Kapuzenumhang herankommen sah. Sie öffnete die Tür, Aaron und der Graf traten ein.
Chassim blieb stehen und hielt Anna, die bei der Berührung unmerklich zusammenzuckte, an der Schulter fest und sagte leise: »Ich gehe nicht hinein. Der Platz an Ottgilds Seite gehört dem Ehemann und nicht dem Bruder. Entschuldigt mich bei meiner Schwester und versprecht mir, dass Ihr alles tut, um ihr und dem Kind zu helfen.« Er sah Anna dabei mit Nachdruck in die Augen.
Anna hatte einen Moment lang das Gefühl, als würde die Zeit stehen bleiben, als Chassim sich ihr zuwendete. Doch dann riss sie sich zusammen und antwortete: »Seid versichert, dass wir alles tun, was in unseren Kräften steht, Herr. Das verspreche ich Euch.«
Chassim beugte sich zu Anna hinunter und flüsterte ihr ins Ohr: »Mein Schwager liebt seine Frau. Er darf sie nicht verlieren!«
Dann drehte er sich abrupt um und ging.
Anna betrat das Gemach, und die Dienerin schloss hinter ihr die Tür.
Gräfin Ottgild war eine schöne Frau, sah jedoch blass und ausgezehrt aus, wie sie da schwer atmend in ihrem großen Bett auf Daunenkissen lag, die ihren Kopf und den Oberkörper stützten. Die übliche Betthaube hatte sie in der rechten Faust, wohl weil sie sie in einem Krampf heruntergerissen hatte. Ihr langes, gelocktes Haar ergoss sich über das schweißnasse Kissen, und ihr Atem ging hechelnd, als Anna das Schlafgemach betrat. Eine dickliche Dienerin, offenbar die Amme, wischte ihr mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn.
Anna trat näher. Aaron war schon auf der rechten Seite des Bettes, der Graf setzte sich zur Linken seiner Frau und nahm ihre Hand.
Ottgild schlug die Augen auf, erkannte Aaron und bemühte sich um ein schwaches Lächeln. »Danke für Euer Kommen, Meister Aaron. Ich bin so froh, dass Ihr da seid.«
Ein krampfartiger Schmerz, eine Wehe, durchfuhr ihren Körper, sie bäumte sich auf und schrie.
Aaron wartete ab, bis der Krampf nachließ, sie wieder zurück in ihre Kissen sank und erschöpft die Augen schloss.
Anna löste sich aus ihrer Erstarrung und begann, ihren Ranzen aufzumachen und alles, was
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