Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
»Anna, du nimmst den anderen Ranzen. Und pack noch zwei Schlafschwämme mit ein. Und Aqua Vitae.«
Anna tat, wie ihr geheißen, und machte ihren Ranzen fertig, den sie dann am Riemen über ihre Schulter warf.
Aaron suchte immer noch weiter herum. »Wir brauchen unbedingt die speziellen Fäden. Wo habe ich sie denn nur?«
»Welche Fäden?«, fragte sie.
»Ich habe spezielle Fäden für das Vernähen von großen Wunden hergestellt. Ah, da sind sie ja!«
Er hatte eine Schublade geöffnet und holte nun ein Tuch heraus, das er aufwickelte. In dem Tuch waren Nadeln, in die bereits ein Garn eingefädelt war, das Anna nicht sofort zuordnen konnte.
Der Medicus rollte das Tuch wieder zusammen und gab es Anna. »Steck die noch in deinen Ranzen. Ich hoffe zwar, dass wir sie nicht brauchen, aber man weiß ja nie.«
Anna nahm das Tuch, während Aaron den zweiten Ranzen ergriff und an Anna vorbeiging.
»Auf was wartest du? Es geht um Leben oder Tod. Gehen wir!«, sagte er mit grimmigem Gesicht.
Aaron neigte sonst nicht zu übertriebener Dramatik, aber als sie seine wild entschlossene Miene sah, bekam Anna es mit der Angst zu tun. Sie wagte nicht zu fragen, wohin und zu wem es gehen sollte.
Er blieb noch einmal stehen, so dass sie beinahe auf ihn auflief, und sagte leise: »Alles, was du von jetzt an siehst oder tust, musst du für dich behalten. Unter allen Umständen, versprich mir das bei allem, was dir heilig ist!«
Sie sah ihm in die Augen und sagte mit fester Stimme: »Ja, Meister!«
Aaron drehte sich um und schritt den Flur in Richtung Scheune entlang. Anna folgte ihm.
In der Scheune schnaubte ein fremdes Pferd, und spärliches Licht von einer Fackel erhellte den Raum. Neben dem Ross stand ein Mann, dessen Gesicht im Schatten seiner dunklen Kapuze kaum auszumachen war. Den Kapuzenrand hatte er weit über die Stirn gezogen, so dass nur die Nasenspitze darunter hervorschaute. Im flackernden Licht erkannte Anna den Rappen mit der Blesse über den Nüstern erst auf den zweiten Blick, und es durchfuhr sie heiß und kalt zugleich. Sie hatte gleich geahnt, wer der wartende Mann war. Jetzt wusste sie es.
Aus Tausenden hätte sie ihn wiedererkannt.
Den Mann aus ihrem Traum. Chassim.
In diesem Moment hob der Kapuzenmann kurz seinen Kopf, und ihre Blicke trafen sich. Anna wusste nicht, ob er sie erkannte. Sie spürte nur, wie ihr wieder die Röte ins Gesicht schoss. Aber für irgendwelche Gedankenspielereien war jetzt nicht die Zeit.
Aaron zeigte nur kurz auf sie und sagte: »Meine Famula «, und Chassim grüßte sie mit einem knappen Kopfnicken. Er drückte erst ihr, dann Aaron eine mit Pech getränkte Fackel in die Hand. Beide Fackeln entzündete er mit seiner brennenden, dabei versuchte Anna krampfhaft, ihm nicht ins Gesicht zu sehen. Ihre Hand mit der Fackel zitterte.
»Gehen wir«, meinte Aaron, eilte in die hinterste Ecke der Scheune, wo der Boden mit Stroh bedeckt war, nahm einen Besen und kehrte das Stroh beiseite. Darunter kam eine Falltür mit einem Ring zum Vorschein, von deren Existenz Anna bisher nichts gewusst hatte. Aaron zog die Falltür am Ring hoch und hielt sie auf. Er ließ Anna und Chassim voraus eine steile Treppe nach unten steigen und folgte ihnen, nachdem er die Falltür wieder hinter sich geschlossen hatte.
Am Ende der Treppe befand sich eine Kammer, von der ein feuchter, lehmiger Gang steil abwärts führte. Er war so eng, dass sie leicht gebückt hintereinander gehen mussten. Aaron drückte sich an Chassim und Anna vorbei und setzte sich an die Spitze. Im Gänsemarsch betraten sie den Gang. Anna vermutete, dass er direkt unter der Stadtmauer hindurchführte, denn es roch modrig und feucht nach Erde. Irgendwann machte der Gang eine langgezogene Kurve und führte weiter abwärts, danach verlief er eben und geradeaus weiter. Regelmäßig tauchten Stützbalken im Licht der Pechfackeln auf. Überall tropfte es von der Decke und den Wänden, und an einigen Stellen hatten sich große Wasserlachen gebildet. Aaron schien sich gut auszukennen, er schritt unbeirrt voran, Chassim folgte ihm auf den Fersen und Anna bildete das Schlusslicht.
Auf einmal wurde der Gang breiter, und im Lichtschein der Fackeln tauchten Seitengänge und Abzweigungen auf. Aaron zögerte keinen Moment, zielsicher marschierte er voran durch das unterirdische Labyrinth, bis der Gang noch breiter wurde und sie in einer zweiten Kammer landeten. Auch hier war die Decke kaum mehr als mannshoch, aber ab jetzt waren die Seitenwände
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