Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
den letzten Worten sah sie zu ihrem Mann, dem Grafen, hoch, der bestätigend nickte.
Der junge König machte ein paar Schritte auf das Bett zu, beugte vor der Gräfin das rechte Knie und küsste etwas ungelenk, aber umso inniger ihre Hand. Dann warf er Anna noch einen verschwörerischen Blick zu, lächelte kurz und verließ mit Chassim das Schlafgemach.
Von einer Fensterlaibung ganz oben im Bergfried, dem höchsten Aussichtspunkt der Burg, sah Anna dem Abzug des königlichen Trosses zu, der im Gegensatz zur Ankunft ganz im Stillen und zum Rhein hinunter vonstatten ging. Die Reiter und Fußsoldaten hatten bereits Zelte, Waffen und Lagerausrüstungen auf die Wagen gepackt und schlossen sich dem langen Zug an, der von der flachen Ebene unterhalb der Burg auf der Straße nach Osten abzog und schließlich hinter einem Waldrücken verschwand, von wo aus es zum Rhein hinunterging, der sich als glänzendes Band bis zum Horizont schlängelte.
Anna blickte dem langgezogenen Tross mit Wehmut nach, bis auch der letzte Wagen vom Wald verschluckt wurde und nur noch eine Staubwolke übrig blieb, die sich auch bald aufgelöst hatte. Chassim war mit dem König an der Spitze des Zuges fortgeritten, und sie fragte sich, ob sie ihn jemals wiedersehen würde.
Als sie sich umdrehen und nach unten gehen wollte, sah sie durch die Fensterlaibung im Süden am Horizont eine dunkle, bedrohlich rötlichbraune Wetterfront heranziehen, die überraschend schnell aufquoll. Jetzt musste sie sich beeilen, wenn sie nicht mitten in das aufkommende Unwetter geraten wollte.
Auf dem Weg zurück zum Haus des Medicus war Anna ganz in Gedanken versunken. Wenn es doch ewig so weitergehen könnte, dachte sie und verlor sich ein wenig in Tagträumereien, die mit einer glanzvollen Zukunft und mit Chassim zu tun hatten. Als ihr der übliche Gestank der Stadt in die Nase stieg und sie wieder aufpassen musste, wohin sie ihre Füße setzte, um wenigstens dem schlimmsten Schmutz auszuweichen, kam sie, schneller als ihr lieb war, wieder in die Wirklichkeit zurück.
Die Sonne verschwand mit einem Mal hinter einer dicken Wolkendecke, und Anna wurde plötzlich kalt. Sie war inzwischen am Marktplatz angelangt, als sie von einer auffrischenden Windbö erfasst wurde. Schwarzbraune Wolken jagten über das Firmament, ein eisiger Wind blies durch die Gassen, wirbelte ihr den Staub in die Augen und blähte den Kapuzenumhang auf. Sie musste sich regelrecht gegen den Wind stemmen und zog die Kapuze tiefer über ihren Kopf.
Auf einmal ebbte der Wind ab, und erste Tropfen fielen. Anna fing an zu rennen, so dass der Ranzen gegen ihren Rücken schlug. Die Tropfen wurden immer dicker, und Anna streckte die Hand aus, weil ihr die Tropfen so seltsam vorkamen. Sie waren rot. Rote Regentropfen. Anna blieb abrupt stehen und merkte, dass auch die wenigen Leute, die trotz des Unwetters unterwegs waren, angesichts der roten Tropfen angehalten hatten und nach oben starrten, auf die tiefhängende Wolke, aus der es regnete und die sich inzwischen über der ganzen Stadt ausgebreitet hatte. Die Wolkenschicht war rötlich gefärbt, ein seltsames, fahles Rot, das unheimlich und angsteinflößend wirkte. Auf einmal ergoss sich der Regen in wahren Sturzbächen vom Himmel und färbte alles rot. Die Dächer, die Straßen, die im Nu schlammig waren, die Gesichter der Menschen, die voll Furcht nach oben sahen.
»Es regnet Blut! Das ist die Strafe des Himmels für unser sündiges Leben! Tut Buße, ihr Sünder, tut Buße, denn das Himmelreich ist nahegekommen! Das ist das Ende der Welt!«, schrie ein alter Mann mit grauen Haaren und grauem Bart mitten auf dem Marktplatz, sank mit nach oben gerichtetem Blick auf die Knie, hob die Hände und fing laut an, das Vaterunser zu beten, während die roten Tropfen, die auf sein Gesicht fielen, ihn aussehen ließen, als würde er Blut weinen.
Anna löste sich aus ihrer Erstarrung und rannte weiter.
Als sie schließlich völlig außer Atem den Hof des Medicus erreichte, durchnässt bis auf die Haut, standen Esther und Rebecca im offenen Scheunentor und bestaunten ungläubig das seltsame Schauspiel der Natur. Anna rettete sich ins Innere der Scheune und sah an sich herunter – der ganze Kapuzenumhang war von bräunlich-rötlichem Schlamm überzogen. Sie streifte die Kapuze zurück und stellte sich neben Esther und Rebecca, um zu sehen, wie sich die Hofeinfahrt, die Wiesen und die Stadtmauer rot färbten, sogar der stark angeschwollene Bach unter dem Haus,
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