Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
bemerkbar, er gab sich einen Ruck, setzte seine Arbeit fort und tat so, als ob nichts gewesen wäre.
Auch beim Abendessen verhielt er sich still und schweigsam. Sein sonst so heiteres, durch nichts zu erschütterndes Wesen war einer lähmenden, nach innen gerichteten Nachdenklichkeit gewichen, die an Bitterkeit grenzte. Diese Stimmung wurde von Rebecca und Esther geteilt, so dass Anna sich nicht traute, etwas zum Gespräch beizutragen, das möglicherweise als unangemessen und falsch aufgefasst werden konnte. Es war fast so, als ob Aaron, seine Schwester und Rebecca etwas zu beschäftigen schien, von dem sie ausgeschlossen war. Anna ahnte auch, worum es ging. Ein Patient im Ghetto hatte erzählt, dass es in Köln vereinzelte Ausschreitungen gegen Juden gegeben hatte. Ähnliche Geschichten aus anderen Städten im Reich machten die Runde und deuteten darauf hin, dass es bald zu größeren Anschlägen gegen die Juden kommen würde. Noch war alles Spekulation, aber die Juden hatten ein feines Gespür dafür, wenn ein Komet am Himmel oder ein Kalb, das mit zwei Köpfen zur Welt kam, als Zeichen dafür gedeutet wurde, dass ein göttliches Strafgericht bevorstand. Aaron hatte Anna gegenüber davon gesprochen. Und dass er dann nicht mehr hier sein wollte.
Jedenfalls ging Aaron nach dem Abendessen in die Scheune. Angeblich, um nach den Pferden zu sehen. Das tat er nie, weil Rebecca für die Pferde und die zwei Kühe, die sie sich für frische Milch hielten, zuständig war. Anna wollte zwar nicht hinter ihm herspionieren, aber sie warf doch einen Blick in die Scheune, wo sie ihren Medicus dabei beobachtete, wie er sein Fuhrwerk inspizierte, auf dessen Kutschbock sie damals mit ihm hierhergefahren war. Und ihres Wissens hatte er nicht vor, eine weite und gefährliche Fahrt nach Köln oder Koblenz auf sich zu nehmen, weil er Nachschub für seinen Arzneivorrat brauchte. Als Aaron anfing, die Radnaben mit Fett einzuschmieren, schlich sich Anna wieder ins Haus, weil sie nicht entdeckt werden wollte.
Am nächsten Tag machte Anna der Gräfin Landskron in aller Herrgottsfrühe ihre Aufwartung und fand sie in bester Laune vor. Sie spielte mit ihrem Söhnchen, das vor Vergnügen krähte und die kleinen Händchen nach Anna ausstreckte. Ottgild war zunehmend genesen, sie konnte schon langsam gehen, ohne größere Schmerzen zu verspüren. Die Wunde war noch nicht ganz, aber fast verheilt, Aaron konnte die Fäden demnächst entfernen, wie Anna der Gräfin mitteilte.
Ottgild wiederum erklärte sich mit Aarons Wunsch einverstanden. Auch ihr erschien es ratsam, seinen Besuch geheimzuhalten. Inzwischen hatte ihr Mann, Graf Georg, eine Entscheidung gefällt. Der Konflikt mit dem Burgkaplan sollte so schnell wie möglich beigelegt werden, und so war die Taufe des kleinen Friedrich für den nächsten Tag geplant. Anschließend würde der Graf ein großes Fest in der Halle des Palas geben, was aber einer Begegnung mit dem Medicus nicht im Wege stand.
Als Anna nach dem Besuch bei der Gräfin den Burghof durchquerte, war sie sehr nachdenklich. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass sich etwas zusammenbraute. Es war nur ein Gefühl, sie konnte nicht sagen, warum. Die Gräfin hatte sich ihr gegenüber so herzlich wie immer benommen, die Wachen begegneten ihr mit dem gleichen Respekt wie jedes Mal. Aber irgendetwas lag in der Luft, das spürte sie.
Sie ging auf das innere Burgtor in der Schildmauer zu, da sah sie mitten im Torweg eine schwarze Gestalt stehen, die auf sie zu warten schien. An seiner Kleidung erkannte sie sofort, wer es war. Der Burgkaplan. Er trug einen schwarzen Talar, ein weitärmliges Obergewand, das bis zum Knöchel reichte. Violette Knöpfe und Knopflöcher zeigten seinen Rang an. Er reckte sein Kinn mit dem Jägerbart streitsüchtig vor und zog sein violettes Zingulum enger, als sie näher kam. So wie er dastand, schien er nicht vorzuhaben, sie ohne weiteres vorbeizulassen. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als mit ihm zu sprechen. Erhobenen Hauptes, das nahm sie sich fest vor. Von einem Mann der Kirche würde sie sich nie wieder einschüchtern lassen.
Als sie noch zwei Schritte von ihm entfernt war, sprach er sie an: »Seid Ihr Anna? Anna, die …«, er zögerte absichtlich, »… die Medica?«
»Ja«, sagte sie und blieb stehen. »Ja, die bin ich.«
»Es freut mich, dass wir uns kennenlernen. Ich bin der Burgkaplan. Ihr könnt mich mit ›Euer Gnaden‹ ansprechen.«
Er gab ihr nicht die Hand, sondern setzte seine
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