Das Geheimnis der Monduhr: Roman (German Edition)
weitersehen. Nun habe ich alles verloren. Ich sitze vor der Kamera, und mein Anzug kommt mir wie eine Zwangsjacke vor. Zu Recht, denn ich weiß nicht mehr, wer ich eigentlich bin. Bei der Arbeit trage ich diese verfluchte Maske, und wenn ich nach Hause komme, setze ich die nächste auf.
Warum kann ich die Zeit nicht einfach zurückdrehen und noch mal von vorne anfangen? Ich vermisse dich so, Holly! Es tut so verdammt weh. Ich kann so nicht weiterleben.
Als Tom aufhörte zu schreiben, sah er derart hilflos aus, dass Holly es nicht übers Herz brachte zu gehen. Tom brauchte sie, und ob er sie spüren konnte oder nicht, sie musste es wenigstens probieren. Sie trat wieder einen Schritt vor, um sich neben ihn zu knien und den Arm um
ihn zu legen. Sie musste ihm unbedingt sagen, dass sich alles zum Guten wenden würde, ob er sie hörte oder nicht, ob er ihre Gegenwart spürte oder nicht.
In diesem Augenblick fing Libby an zu schreien. Als Holly ihren Kopf in die Richtung des Kinderzimmers drehte, hörte sie, wie Tom nach Libby rief, er käme gleich. Er stand auf, und da Holly wie angewurzelt stehen geblieben war, ging er direkt durch sie hindurch.
Holly war genauso verblüfft wie Tom. »Holly?«, fragte er und blieb überrascht stehen. Libbys Geschrei wurde nachdrücklicher. Tom erwachte aus seiner Trance und stolperte aus dem Zimmer.
Holly zitterte wie Espenlaub. In dem Augenblick, als Tom durch sie hindurchgegangen war, hatte sie seinen wilden Schmerz gespürt, seine Wut und seine Verzweiflung. Holly bekam Angst um Tom – und um Libby. Wie sollte ein Mensch mit diesem Schmerz weiterleben? Sie holte mehrmals tief Luft, um das Zittern unter Kontrolle zu bringen. Neben dem Herzklopfen, das in ihren Ohren dröhnte, neben dem Babygeschrei, das allmählich nachließ, hörte Holly noch ein anderes Geräusch. Das Ticken einer Uhr, die das nahe Ende ihrer Vision anzeigte.
Holly hastete Tom hinterher, er stand mit dem Rücken zu ihr am Fenster des Kinderzimmers. Er blickte hinaus und tröstete Libby, die sich an ihn schmiegte. Mochte er auch ein psychisches Wrack sein, dachte Holly, so war er doch immer noch ein guter Vater.
»Daddy ist ja da«, flüsterte er Libby zärtlich und leise ins Ohr. Er hatte sich in seiner Wut verausgabt, und jetzt war er vollkommen leer. Seine Stimme klang matt,
fast leblos. »Das kann ich nicht machen«, murmelte er.
Holly konnte Toms eingefallene Züge erkennen, die sich im Fenster spiegelten. Er sah nach oben zum Himmel, aber dann fiel sein Blick auf eine Stelle direkt vor seinen Augen, eine Stelle auf der Fensterscheibe, wo sich Hollys Gesicht im Mondlicht spiegelte und von der nächtlichen Dunkelheit abhob. Ihre Blicke trafen sich, und Holly sah, wie sich Toms Augen vor Entsetzen weiteten.
Die Wirbel des Mondlichts rissen alles mit, Holly spürte noch, dass Tom sich nach ihr umwandte, dann war er verschwunden und Libby für immer verloren.
ELF
E s dauerte ein paar Tage, bis Holly sich von der Vision erholt hatte. Sie hatte nicht nur Tom in seinem grenzenlosen Elend gesehen, sie hatte seinen Schmerz tatsächlich empfunden, als er durch sie hindurchgegangen war. Wenn sie daran dachte, hatte sie immer noch das Gefühl, als sei es ihr eigener Schmerz. Sie hätte ohne Weiteres die ganze Woche im Bett verbringen können, aber sie musste in Bewegung bleiben, durfte nicht zu viel nachdenken, und glücklicherweise gab es genug zu tun.
Als Holly zur Arbeit in der Teestube erschien, war Jocelyn außer sich, als sie hörte, dass Holly die Monduhr benutzt hatte. Sie wollte die ganze Geschichte wissen, aber weil sie nicht allein waren, konnte Holly sich auf das Nötigste beschränken. Sie wollte noch nicht darüber sprechen, sie musste das Ganze erst einmal verdauen. Innerhalb einer einzigen Stunde hatte sie die beglückendste und die erschütterndste Erfahrung ihres Lebens gemacht. Wenn sie daran dachte, wie sie Libby im Arm gehalten hatte, schlug ihr Herz höher, aber dann erinnerte sie sich wieder an Tom.
Glücklicherweise ließ Jocelyn sie fürs Erste in Ruhe, aber als sie am Wochenende zum gewohnten Sonntagsfrühstück erschien, erwartete sie natürlich einen umfassenden
und aufrichtigen Bericht und stellte sofort die Frage, auf die Holly schon gefasst war.
»Hast du es dir etwa anders überlegt?« Mit finsterer Miene, das Gesicht voller Sorgenfalten, rührte sie in ihrer Teetasse und blickte nachdenklich in die wirbelnde Tiefe, als wüsste die Tasse und nicht Holly die Antwort. Sie saßen
Weitere Kostenlose Bücher