Das Geheimnis der Monduhr: Roman (German Edition)
sich an dem Kind nicht sattsehen, nahm jedes Detail wahr, das sie sich seit ihrem letzten Besuch einzuprägen versucht hatte. Das kleine Gesicht hatte einen herzförmigen Schnitt und wohlgeformte Pausbäckchen, an die Holly sich erinnerte. Ihre leicht geöffneten roten Lippen bildeten einen hübschen Kontrast zu der zarten Haut, und weiche blonde Locken lagen wie ein Heiligenschein um ihren Kopf.
Als Holly unsicher eine Hand ausstreckte, um dem Baby im Schlaf die Wange zu streicheln, schlug Libby die Augen
auf. Holly erschrak. »Hallo, mein Schatz. Hab ich dich geweckt?«, flüsterte sie.
Ihr Entzücken schlug in blankes Entsetzen um, als Libbys Lippen zitterten, als wollte sie anfangen zu schreien. Holly hatte nicht bedacht, dass das Baby sich vor ihr fürchten könnte. Sie traute ihren spärlichen mütterlichen Instinkten nicht zu, ein schreiendes Baby zu beruhigen, nicht einmal Libby.
Glücklicherweise blieb es ihr erspart, ihr Geschick auf die Probe zu stellen. Libbys ängstliche Miene hellte sich auf, und ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Sie rollte sich auf den Bauch, um sich an den Gitterstäben hochzuziehen. »Wie groß du geworden bist«, staunte Holly verunsichert. Sie hatte keine Ahnung, was sie jetzt machen sollte.
Libby kniete mittlerweile an den Gitterstäben des Bettchens, dann griff sie hinter sich nach einer Stoffpuppe, die neben ihr gelegen hatte. Erwartungsvoll blickte sie zu Holly auf, um auf den Arm genommen zu werden. Sie gluckste und brabbelte voller Begeisterung.
Holly, die jetzt auch noch besorgt war, dass Tom aufwachen könnte, lief in ihrer Panik zum Fenster und zerrte verzweifelt an den Jalousien. Je mehr Mondlicht durch die Ritzen drang, umso weniger Kraft musste sie aufwenden. Der leuchtende Mond, umgeben von tausenden, glitzernden Sternen, war in seiner ganzen Pracht zu sehen. Libby plapperte ungeduldig im Hintergrund. »So weit, so gut«, flüsterte Holly. Erleichtert stellte sie fest, dass der Mond das Kinderzimmer nun hell erleuchtete, und hoffte inständig, stark genug zu sein, um das zu bewerkstelligen, was ihr bei ihren letzten Besuchen nicht gelungen war.
Sie drehte sich wieder zu Libby um und atmete tief durch. Die Anspannung steigerte sich fast ins Unerträgliche. Sie hatte sich so danach gesehnt, Libby im Arm zu halten, bis zur Besessenheit, und jetzt könnte der Traum in Erfüllung gehen, sie könnte Libby zum ersten und zum letzten Mal in ihren Armen spüren.
Als Holly sie aufnehmen wollte, streckte Libby die Arme aus und klatschte aufgeregt in die Hände. Holly spürte den weichen Schlafanzug und die Körperwärme, als sie ihrem Kind behutsam unter die Arme griff. Sie zögerte einen Moment. Auf was sollte sie sich gefasst machen? Die Freude, das Kind hochzuheben? Oder die Enttäuschung darüber, dass alles hoffnungslos war? Libby sah Holly erwartungsvoll in die Augen, und das zarte Band, das in dem Moment zwischen ihnen beiden geknüpft wurde, erschien ihr so fest, dass Holly glaubte, es könnte nie mehr reißen.
Und so leicht es Holly ums Herz wurde, so leicht ließ Libby sich heben, direkt in die Arme ihrer Mutter.
»Meine süße kleine Libby«, weinte Holly und drückte das Baby an ihre Brust. Sie küsste Libbys Kopf, ihre Wangen, ihre Nase, ihren Hals. Libby zappelte vor Vergnügen, griff nach Hollys Haaren und gluckste, als sie ihr mit der Stoffpuppe ins Gesicht wedelte.
»Was hast du denn da?«, fragte Holly und wollte ihr das weiche Spielzeug aus der Hand winden, doch Libby ließ nicht locker und protestierte heftig.
»Okay, das gehört dir«, entschuldigte sich Holly. Sie spürte, wie der Vollmond ihr über die Schulter sah, und lächelte. In diesem Augenblick war Holly der Monduhr
tatsächlich dankbar für dieses Geschenk. Von ihr aus hätte es für immer so bleiben können.
Unwillkürlich hatte sie Libby hin- und hergewiegt. Schließlich gähnte die Kleine und lehnte ihren Kopf an Hollys Schulter. Allmählich schlief sie wieder ein, die Lider fingen an zu flattern, und die Finger spielten rhythmisch mit den Falten der Stoffpuppe. Merkwürdiges Spielzeug, dachte Holly. Ein weicher runder Kopf mit Schlapphut und ein quadratisches Stück Stoff, das am Hals befestigt war und den Körper der Puppe bildete. Früher mochte es einmal weiß gewesen sein, aber inzwischen sah es grau und unansehnlich aus.
Libby war längst eingeschlafen, doch Holly wiegte sie weiter. Es war die letzte Gelegenheit, ihr Kind im Arm zu halten. Obwohl Holly sich überlegt
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