Das Geheimnis der Monduhr: Roman (German Edition)
angewöhnt, bei der Arbeit dieselbe Fleecejacke anzuziehen, die sie getragen hatte, als sie Libby auf dem Arm gehalten hatte, weil sie eine Verbindung zu ihrer Tochter herstellte. Sie bildete sich ein, dass die Jacke an der Stelle, wo Libby an ihrer Schulter eingeschlafen war, immer noch ein kleines bisschen nach Baby roch.
Erst nach vielen schlaflosen Nächten konnte sie mit dem Versprechen Frieden schließen, das sie Jocelyn und sich selbst gegeben hatte. Sie musste sich immer wieder vor Augen halten, dass sie das Leben ihrer Tochter nicht nur für ihr eigenes, sondern auch für Toms Leben opferte. Die Bindung, die zwischen Libby und ihr entstanden war, ging ihr nicht aus dem Kopf, und sie schien umso intensiver zu werden, je weiter die Arbeit an der Figur des Kindes voranschritt. Und mit der Bindung wuchs auch das Schuldgefühl. In ihren schlimmsten Stunden, wenn sie nachts wach lag, und sich einsam und verlassen fühlte, brachen alle Dämme, und sie machte sich heftige Vorwürfe, dass sie das Leben ihrer Tochter zerstörte, um ihr eigenes zu retten. Sie fragte sich dann, wie sie dieses allerliebste Baby im Arm halten konnte mit dem Wissen, eine Mörderin zu sein. Erst die Morgensonne, die durch das Schlafzimmerfenster blinzelte und die nächtlichen Schatten verscheuchte, konnte dieser Selbstzerfleischung ein Ende machen. Und dann stand Holly wieder Toms hohler Blick vor Augen, mit dem er ihr Spiegelbild im Fenster angestarrt hatte, und ihr Entschluss
stand fest. Sie würde sich in das Unausweichliche fügen, aber Libby würde immer ein Teil von ihr bleiben, komme, was wolle.
»Vermisst du mich manchmal?«, fragte Tom. »Ich vermisse dich nämlich.«
»Ja, natürlich vermisse ich dich, obwohl ich glaube, dass Billy dich vielleicht noch mehr vermisst«, neckte Holly ihn.
»Hat er schon mit dem Garten angefangen?«
»Nein, wo denkst du hin. Bei dir ist es vielleicht warm und milde, aber hier ist es eiskalt, und der Boden ist gefroren. Billy meint, er kann erst im Frühjahr anfangen. Aber dann bist du ja wieder zu Hause und kannst ihm helfen.«
»Hm, apropos nach Hause kommen …«, sagte Tom. Holly missfiel sein Ton. Sie wusste, dass er ihr etwas Unangenehmes mitzuteilen hatte.
»Bist du im Frühjahr etwa nicht da?«
Tom lachte. »Um Gottes willen, nein. So schlimm ist es nicht. Es könnte nur sein, dass sich der Auftrag hier noch ein bisschen länger hinzieht.«
»Wie lange?«, wollte Holly wissen. Tom sollte Anfang Dezember zurückkommen, und sie hatte schon angefangen, die Tage zu zählen.
»Zwei, drei Wochen. Weihnachten bin ich auf jeden Fall wieder zu Hause. Du musst dann nur mit einem Geschenk aus dem Duty-free-Shop vorliebnehmen, fürchte ich.«
Holly wollte schon böse werden, aber dann fiel ihr wieder ein, dass Tom in ihrer Vision gesagt hatte, wie sehr
er die Arbeit als Nachrichtenmoderator verabscheute, die er nach Neujahr antreten würde. Sie wollte ihn nicht drängen, die Arbeit, die ihm offensichtlich Freude machte, vorzeitig zu beenden.
»Dann muss es aber eine große Flasche sein«, sagte Holly. »Ich meine Parfüm, keinen Alkohol.«
»Du bist ein Schatz, weißt du das?«
Holly runzelte die Stirn, sie wusste, dass sie dieses Lob nicht verdiente. »Aus welchem Grund verlängert ihr? Ist was passiert?«
»Ein paar von den Jungs sind freie Mitarbeiter, sie haben wegen eines Sonderauftrags ihre Zelte hier abgebrochen. Weiter im Süden hat es ein Grubenunglück gegeben, sie übernehmen dort die Berichterstattung über die Rettungsmaßnahmen. Und wir sind die Dummen, an denen jetzt die ganze Arbeit hängen bleibt, deshalb wird es ein bisschen länger dauern als gedacht.«
»Wärst du nicht lieber mitgegangen?« Holly hatte sich vorgenommen, ausführlich mit Tom über seinen Job zu sprechen, wenn er wieder zurück war, und es konnte nicht schaden, schon mal den Boden dafür zu bereiten. Die Monduhr würde sie jedenfalls nicht hindern, Tom bei wichtigen beruflichen Entscheidungen eine Hilfe zu sein.
»Ich bin an meinen Vertrag gebunden, auch wenn er nur befristet ist. Ich kann mir jetzt keinen Ärger mit dem Sender leisten«, gestand Tom kleinlaut. Er hatte offenbar keine Ahnung, worauf Holly hinauswollte.
»Nach allem, was du im letzten halben Jahr geleistet hast, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie dich für den Rest deines Lebens ins Studio verbannen wollen.«
Tom lachte nervös. »Das hört sich ja an, als müsste ich ins Gefängnis.«
»Genauso empfindest du es doch, oder?
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