Das Geheimnis der Monduhr: Roman (German Edition)
hatte, was sie Libby sagen musste, fehlten ihr jetzt, wo es so weit war, die richtigen Worte. Eigentlich gab es nur eins, was sie sagen wollte.
»Ich liebe dich, Libby.« Holly legte ihre Lippen auf die verschwitzte Stirn des Babys. Dabei hätte sie es am liebsten belassen und die Beichte verschwiegen, die ihr auf dem Herzen lag, aber sie musste sie aussprechen, wenigstens um sich selber zu strafen.
»Verzeih mir«, schluchzte sie leise. »Ich hatte nicht gewusst, wie sehr ich dich liebe, und ich wollte, es bliebe uns noch mehr Zeit. Ich würde dir so gerne eine richtige Mutter sein. Ich wollte, das Leben wäre nicht so ungerecht. Du weißt ja nicht, wie schwer mir die Entscheidung gefallen ist.« Holly biss sich auf die Lippen, um das Schluchzen zu unterdrücken, das ihr die Kehle zusammenschnürte. »Ich bin leider keine gute Mutter. Verzeih mir Libby, verzeih
mir. Du hast eine bessere Mutter als mich verdient, ich kann nicht anders. Ich muss es tun. Für mich, für deinen Daddy.«
Holly taten die Arme weh, aber sie war fest entschlossen, Libby so lange wie möglich im Arm zu halten. Erst ein leises Seufzen im Zimmer nebenan riss sie aus ihren Gedanken. Der Klang von Toms Stimme stimmte sie noch trauriger. Nur widerwillig legte sie Libby ins Bettchen. Sie musste Tom unbedingt sehen, um sich in Erinnerung zu rufen, warum sie bereit war, Libbys Existenz auszulöschen. Ein letztes Mal streichelte sie ihr Gesicht. »Ich werde dich immer, immer liebhaben« versprach sie, als sie schließlich ihren Tränen freien Lauf ließ. Libby seufzte und schnarchte leise in seliger Ahnungslosigkeit.
In Toms Zimmer war es stockdunkel, Holly brauchte eine Weile, bis sich ihre Augen daran gewöhnt hatten. Noch bevor sie Tom erkennen konnte, hörte sie ihn. Er stöhnte und rief nach ihr, und das Bettzeug, in dem er sich hin- und herwarf, raschelte in der Dunkelheit wie trockenes Laub. Wütend warf er plötzlich die Decke von sich, setzte sich auf die Bettkante und vergrub den Kopf in beiden Händen.
»Holly«, flüsterte er, als er die Hand nach dem Schalter der Nachttischlampe ausstreckte.
Das matte Licht erleuchtete einen Raum, der ihr völlig fremd war und kaum Ähnlichkeit mit dem Schlafzimmer hatte, das sie vorhin verlassen hatte, um in den Garten zu gehen. Das Einzige, was nicht in der Unordnung untergegangen war, war ihr Frisiertisch, der, abgesehen von einer dicken Staubschicht, genauso aussah wie immer.
Aber ihr Interesse galt nicht dem Raum, sondern Tom. Er hatte seinen Notizblock vom Nachttisch genommen und schrieb in fliegender Hast etwas auf. Holly setzte sich leise neben ihn, und es lief ihr kalt über den Rücken, als sie entdeckte, dass er ihr einen Brief schrieb.
Meine liebste Holly,
ich kann nicht mehr. Du fehlst mir unendlich, und ich muss endlich wissen, warum es so gekommen ist. Ich muss wissen, warum du mich allein gelassen hast. Warum du nicht noch ein bisschen länger durchgehalten hast? Du konntest nicht mal Libby kurz im Arm halten. Wenn du sie nur einmal in den Arm genommen hättest, ein einziges Mal, wärst du bei uns geblieben. Du hättest uns nicht im Stich gelassen.
Tom hielt inne und klopfte erregt mit dem Stift auf das Papier. Der Stift zitterte förmlich unter seiner aufgestauten Wut. Holly war schockiert. Noch nie hatte sie einen solchen Zornanfall bei ihm erlebt, schon gar keinen, der gegen sie gerichtet war. Starr vor Angst ließ Holly ihn nicht aus den Augen, als er weiterschrieb.
Es ist meine Schuld. Ich war derjenige, der Kinder wollte, nicht du. Du wolltest nicht Mutter werden, aber ich habe dich dazu gedrängt. Ich habe dir nicht geglaubt, als du gesagt hast, du könntest das nicht. Ich habe dich dazu gezwungen, und es hat dich das Leben gekostet. Ich habe dich umgebracht.
Tom bebte am ganzen Körper. Holly konnte seine Verzweiflung nicht länger ertragen und stand auf, um zu gehen. Sie wusste, dass sie ihn nicht erreichen konnte, ihm nicht sagen konnte, dass sich alles zum Guten wenden würde. Sie konnte aber auch nicht mit ansehen, wie seine Wut und seine Enttäuschung ihn verzehrten, eine Wut, die er jetzt auch noch gegen sich selbst richtete. Sie trat einen Schritt zurück, vermochte jedoch nicht ihren Blick von dem Notizblock zu wenden, der Toms ganze abgrundtiefe Verzweiflung offenbarte.
Ich hatte mir alles so schön vorgestellt. Ich wollte der perfekte Familienvater sein, habe diesen Job angenommen, den ich nicht mag, damit wir alle zusammen sein können, und wollte dann
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