Das Geheimnis der Monduhr: Roman (German Edition)
gefühlsmäßig keinen Unterschied.«
Die beiden Frauen schwiegen eine Weile, Holly dachte schon, Jocelyn wäre eingeschlafen, aber die alte Dame hatte offenbar nicht die Absicht, Holly ihren Grübeleien zu überlassen.
»Paul hat mich über Weihnachten eingeladen«, fing sie an. »Ich reise kurz vor Weihnachten hier ab und bleibe ungefähr eine Woche. Ein kleiner Anfang, aber ich glaube, wir haben die Kurve gekriegt.«
»Du wohnst bei ihm? Das ist doch ein riesiger Fortschritt.«
Jocelyn lächelte wehmütig. »Ich wohne in einem Hotel in der Nähe. Wie gesagt, ein kleiner Anfang.«
Holly war empört, biss sich jedoch auf die Zunge. Sie wusste kaum etwas von Paul, und in gewisser Weise war auch er ein Opfer der Monduhr. Wusste Paul überhaupt, was ihm all die Jahre entgangen war, als er Jocelyn aus seinem Leben ausgeschlossen hatte?
»Sag mal, wer ist eigentlich diese Mrs Bronson«, nahm Jocelyn das Gespräch wieder auf, als das Schweigen beklemmend wurde. »Bist du schon so weit, dass du die Skulptur übergeben kannst?«
»Ich bin so gut wie fertig. Da ich keinen eigenen Brennofen habe, musste ich den oberen Teil zum Brennen geben. Er müsste in den nächsten Tagen wieder da sein. Dann muss ich nur noch die beiden Hälften zusammensetzen und letzte Hand anlegen, und damit ist die Sache dann erledigt.«
»Ich bin schon sehr gespannt. Es wird sicher wunderschön.«
»Ich bin selber sehr zufrieden, wenn ich das mal sagen darf. In diesem Werk steckt ein Teil von mir, den ich überhaupt nicht kannte.«
»Hoffentlich ist Mrs Bronson auch so angetan, es sieht ja nun etwas anders aus, als sie gedacht hat.«
Holly zuckte unter der Decke mit den Schultern. »Ist mir vollkommen egal. Mir gefällt’s, und ich bin stolz darauf.«
»Du möchtest die Skulptur am liebsten selber behalten, wie?«
Holly fühlte sich ertappt. Woher kannte diese Frau sie so gut? »Ja, vor allem Mrs Bronson gönne ich sie nicht. Bei dir wäre das was anderes.«
Jocelyn versteckte ihre Verlegenheit hinter einem Lachen. »In meine kleine Wohnung würde ja nicht mal das Modell passen, von der fertigen Version ganz zu schweigen.«
»Du weißt doch, wie ich das meine«, sagte Holly leise.
Jocelyn errötete. »Ja, natürlich. Und jetzt wird geschlafen, es ist schon spät.«
»Ja, Jocelyn«, sagte Holly wie ein artiges Kind.
Holly brachte es tatsächlich fertig einzuschlafen, aber die Monduhr ließ nicht locker und spukte bis in ihre Träume. Holly träumte so lebhaft wie noch nie. Im Traum lief sie über ein Feld, um sie herum eine bunte, schillernde Welt. Der azurblaue Himmel und die hellgrüne Wiese unter ihren Füßen leuchteten so grell, dass ihr die Augen wehtaten.
Leicht und beschwingt lief sie auf ein kleines Mädchen mit wunderbar grünen Augen und einem Kranz blonder Locken zu. Es war Libby, aber als vier- oder fünfjähriges Mädchen. Sie riss sie an sich und wirbelte sie im Kreis herum. Sie konnte Libbys Juchzen hören, während die Sonne vom klaren Himmel strahlte. Doch plötzlich verblasste die leuchtende runde Scheibe, wurde kälter, und der blaue Himmel wurde nachtschwarz. In Sekundenschnelle verwandelte sich die Sonne in den Mond, der auf Holly herabblickte, als sich Libbys Erdenschwere vor ihren entsetzten Augen in Luft auflöste. Holly verlor das Gleichgewicht, und ihre Hände griffen ins Leere, so dass sie der Länge nach hinschlug. Keuchend wachte sie auf, der Schreck saß ihr noch in allen Gliedern.
Es war kurz nach sechs Uhr morgens, als Holly leise aus dem Bett schlüpfte, um Jocelyn nicht zu wecken, die leise neben ihr schnarchte. Sonnenaufgang war erst in einer Stunde, das wusste sie. Überwältigt von der Sehnsucht nach Libby, besessen von dem einen Gedanken, schlich sie im Schlafanzug die Treppe hinunter. Sie schnappte den Holzkasten, stolperte durch die rabenschwarze Nacht zur Monduhr, ohne auf das Gestrüpp zu achten, das ihre nackten Füße zerkratzte.
Die Kugel klapperte im Kasten, als Holly sie mit zitternden Händen herausholte und in die Halterung fallen ließ. Sie konnte in der Dunkelheit kaum sehen, wie die Kugel einrastete. Voller Ungeduld wartete sie auf ein erstes Lebenszeichen. Ihr Atem klang rau in der kalten Luft, und sie hatte das Gefühl, von der Finsternis verschluckt zu werden.
Als die Dunkelheit sich nicht lichtete, warf sie einen verzagten Blick zum Nachthimmel hinauf und begriff schließlich, warum es viel zu finster war. Der Vollmond hatte nicht auf sie gewartet, er war bereits
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