Das Geheimnis Der Pilgerin: Historischer Roman
eine Stiefmutter hätte die Pflicht gehabt, ihrer »Schwiegertochter« - möglichst schon vor der Burg - entgegenzugehen und ihr den Friedenskuss zu entbieten.
Der Truchsess, dem das alles eher unangenehm zu sein schien, verbeugte sich nochmals. »Die Frau Luitgart fühlt sich ... hm ... etwas unpässlich. Aber sie wird Fräulein Gerlin gern in ihrer Kemenate empfangen. Ich entsende Euch gleich eine Magd, Herrin, die Euch Eure Unterkunft anweist und Euch aufwartet.«
Gerlin nickte geduldig, aber die Botschaft war klar: Luitgart befahl sie zu sich, statt ihr entgegenzugehen. Sie legte den Rang jetzt schon fest. Gerlin trug es mit Fassung. Auch den Umgang mit Intrigen lernte man am Minnehof, und letztlich würde ohnehin sie am längeren Hebel sitzen. Luitgart verhielt sich unklug. Gerlin konnte ihr die Brüskierungen zurückzahlen, sobald sie Dietrich Eide geschworen hatte.
Immerhin erwies sich der Wohntrakt der Burg von innen als genauso einladend und komfortabel, wie Gerlin beim Anblick von außen gehofft hatte. Der Fachwerkbau war modern und heller als Burg Falkenberg. Die Kamine hatten moderne Abzüge, die Fensteröffnungen waren mit Pergament verkleidet, nicht offen oder nur mit Stoffen verhängt. Der Boden von Gerlins Kemenate war mit wollenen Teppichen belegt, es gab hohe, mit Kissen gepolsterte Stühle und ein Lesepult. Gleich darauf brachte ein Knecht Gerlins Satteltaschen hinauf, in denen sie ein Kleid zum Wechseln und ein paar wichtige persönliche Gegenstände mitführte.
Die junge Magd, die Gerlin in ihr Gemach geführt hatte, half beim Auspacken und begeisterte sich über den venezianischen Spiegel - ein Geschenk der Herrin Aliénor, das Gerlin dem Wagen mit ihrer Aussteuer nicht anvertraut hatte. Die kleine Kostbarkeit war in ihrer Satteltasche gereist und regte die junge Dienerin nun zu verwunderter Betrachtung ihres eigenen Äußeren an. Gerlin wartete geduldig, bis sie sich sattgesehen hatte, und hielt sie dann erst an, ihr beim Auskleiden und beim Kämmen zur Seite zu stehen. Das Mädchen stellte sich geschickt an. Wahrscheinlich hatte Frau Luitgart oder ihre Vorgängerin das Personal geschult.
»Ich soll Euch dann auch zu der Herrin geleiten«, bestätigte das Mädchen schließlich Gerlins Vermutungen. »Sie hat mich angewiesen, Euch zu Diensten zu sein.«
Und am Abend würde die Magd ihrer eigentlichen Herrin jeden Satz weitererzählen, der in Gerlins Nähe gesprochen worden war ... Gerlin beschloss, sich möglichst bald um eigene Dienerinnen zu bemühen oder sich vorerst allein anzukleiden.
Zunächst folgte sie dem Mädchen aber durch unzählige und teils recht dunkle Korridore. Luitgart residierte in einem anderen Flügel der Burg. Ihre Kemenate bot einen weiten Ausblick über das Land, während Gerlins auf einen Wehrgang mündete. Man hatte die junge Frau in einem Gemach untergebracht, das nicht im traditionellen Frauentrakt lag. Auch das war nicht gerade höflich. Gerlin würde nachts nicht auf den Gang treten können, ohne auf vielleicht betrunkene Ritter oder Knappen zu stoßen.
Gerlin fragte sich, ob sie das Thema anschneiden sollte, aber vorerst würde sie sich anhören, was Luitgart zu sagen hatte.
Die kleine Magd betätigte schüchtern den Klopfer an Luitgarts Tür und wurde sofort hereingerufen. Sie knickste artig, als sie Gerlin die Tür aufhielt.
Luitgart von Ornemünde zu Lauenstein erwartete ihren Gast aufrecht stehend, wohl wissend, welchen Effekt sie damit erzielte. Sie hatte sich so vor dem Fenster platziert, dass ihr leuchtend goldenes Haar das letzte Licht des Tages einfing und ihr die Aura einer Heiligen verlieh. Gerlin blieb beim Anblick der schlanken Gestalt jede Begrüßung im Halse stecken. Sie hatte sich selbst eigentlich immer recht schön gefunden - zumindest ansprechend. Natürlich hätten ein Bad und ein wenig Ruhe nach der Reise ihrem Teint gutgetan und ihr Haar weicher und glänzender wirken lassen. Aber vor Luitgart von Ornemünde wäre ihr Stern auch dann verblasst.
Die junge Witwe war in Gerlins Alter - ja, sie wirkte fast etwas jünger, ihr Gesicht war von mädchenhafter Schönheit. Gerlin fühlte sich an die marmornen antiken Götterstatuen erinnert, mit denen die Herrin Aliénor ihren Rosengarten schmückte. So, genau so musste Aphrodite ausgesehen haben, als Paris ihr den Apfel zusprach - ein ungemein ebenmäßiges Gesicht mit einer wohlgeformten Nase, vollen Lippen und riesigen smaragdgrünen Augen. Ihr Haar war wie gesponnenes Gold - sie trug es
Weitere Kostenlose Bücher