Das Geheimnis Der Pilgerin: Historischer Roman
hochgewachsenen Jungen in den Raum. Dietrich von Ornemünde trug lederne Beinlinge, hohe Stiefel und eine schlichte leinene Tunika. Er überragte Rüdiger deutlich an Größe, auch Gerlin würde zu ihm aufschauen müssen. Seine Stimme war bereits die eines Mannes, aber sein Gesicht war noch jungenhaft weich, dabei schmal, sehr edel - und jetzt puterrot angelaufen.
»Verzeiht, Herrin ...« Der Junge wagte nicht aufzusehen. Er schwankte offensichtlich zwischen dem Drang, sofort wieder wegzulaufen - sich damit aber der Dame gegenüber unhöflich zu betragen -, und dem unverzeihlichen Fauxpas, sich seiner versprochenen Gattin formlos und vor allem ohne jegliche Aufsicht von Seiten des Hofes zu nähern.
Gerlin verspürte Mitleid mit Dietrich und Wut auf ihren Bruder. Der blonde Junge, der jetzt im Boden zu versinken schien, hatte ihr keinen Streich spielen wollen. Sein Wunsch, einen heimlichen Blick auf das Mädchen zu werfen, dem er versprochen war, war durchaus verständlich. Und nun hatte Rüdiger ihn verraten.
»Es gibt nichts zu verzeihen, Herr Dietrich!«, sagte sie freundlich. »Zumindest nichts, was ich Euch nachzusehen hätte. Wenn Ihr meinem Bruder sein unziemliches Benehmen vergeben könntet, so wäre das allerdings sehr freundlich.«
Dietrich hatte Rüdiger schon vergessen. Er wagte, Gerlin kurz anzusehen - und konnte dann den Blick kaum von ihr wenden. Gerlin lächelte ihm zu.
»Tretet einfach ein, Herr Dietrich, es ist nichts Verwerfliches an dem Besuch eines Minneherrn bei seiner Dame. Zumal eine Dame - und ein Ritter! - befähigt sein sollten, darüber Stillschweigen zu bewahren.« Gerlin wandte sich freundlich an Dietrich, blitzte dann aber ihren Bruder an, nachdem der Junge sich schüchtern in ihre Kemenate geschoben hatte. »Und du packst dich jetzt, Rüdiger! Und verschließ deinen vorlauten Mund! Was Herr Dietrich tut, ist seine Sache, was jedoch mich angeht, so würde ich dir nie vergeben, wenn du mit dem bösen Spiel auch noch prahltest, das du hier mit deinem künftigen Schwager und Waffenbruder getrieben hast.«
Rüdiger verzog sich, jetzt ebenfalls mit rotem Gesicht. Dietrich sah wieder zu Boden. Aber dann fasste er sich.
»Ich begrüße Euch, Fräulein Gerlin, auf der Burg meiner Väter. Verzeiht mein anfängliches Schweigen. Euer Anblick raubte ... raubte ... also ich ... Ihr seid wunderschön, Gerlin von Falkenberg!«
Der Junge sah ihr nun offen ins Gesicht, und Gerlin hätte ihm das Kompliment gleich wiedergeben können. Dietrichs Freunde und Ritter hatten nicht übertrieben - er war ein gut aussehender Knabe. Dietrich war hoch aufgeschossen und dünn, sowie jetzt, da ihm die Schamröte aus dem Gesicht wich, eher blass. Man mochte kaum glauben, dass er täglich viele Stunden damit zubrachte, sich an frischer Luft im Reiten und im Kampf zu üben, aber vielleicht hing es ja wirklich damit zusammen, dass er als Kind oft unpässlich gewesen war. Krank jedenfalls wirkte er nicht, sondern durchaus lebhaft. Seine nebelgrauen, sanften Augen wanderten bewundernd über Gerlins Gesicht, ihr Haar und ihr Kleid. Er streifte ihre Handgelenke.
»Ich hätte Euer Geschenk schon noch angelegt«, bemerkte Gerlin. »Die Armreife gefallen mir überaus gut, ich danke Euch herzlich dafür, und ich wollte sie bei unserem Treffen tragen. Vielleicht ...«
Sie hielt ihm den linken Arm entgegen und öffnete mit der rechten Hand das Schmuckkästchen. »Vielleicht mögt Ihr sie mir anlegen!«
Über Dietrichs Gesicht huschte ein Leuchten, aber sein Lächeln war auch etwas besorgt. Er schreckte fast zurück, als er das Gold jetzt vorsichtig über ihre Hände schob.
»Eure Finger sind so zart ... ich wage es kaum, Euch zu berühren«, sagte er leise.
Gerlin lachte herzlich. »Die Schmeichelei gelingt Euch gut, mein versprochener Gatte, aber Ihr solltet doch nicht gar so auffällig schwindeln. Meine Hände sind rau vom Zügeln meines Pferdes und von der Arbeit im Haushalt. Nicht so rau wie die einer Magd, aber auch nicht so fein wie die einer Prinzessin. Also fasst ruhig zu, ich zerbreche nicht so leicht.«
Dietrich schlug die Augen nieder. »Ich möchte keine Fehler machen«, sagte er. »Ich mache ohnehin so viele Fehler.« Der Junge biss sich auf die Lippen.
Gerlin nahm seine Hand. »Bisher verhaltet Ihr Euch äußerst höfisch und minniglich!«, versicherte sie ihm.
Dietrich strahlte, ob des Lobes wieder ganz das glückliche Kind. »Oh, danke, Herrin! Seht, ich bemühe mich um ritterliche Tugenden, und der
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