Das Geheimnis Der Pilgerin: Historischer Roman
Böswilligkeit im Spiel ist. Schaut, Fräulein Gerlin, während der Übungskämpfe schicken wir Herrn Dietrich meist nur gegen Knappen in die Schranken, die ihm körperlich nicht allzu sehr überlegen sind. Dieser Kampf gegen Herrn Theobald neulich war eine Ausnahme - und provoziert von diesem impertinenten kleinen Schnösel! Es gab einen Streit zwischen den beiden, und sie waren schneller auf dem Pferd, als ich einschreiten konnte. Und glaubt mir, es gehört einiges dazu, einen Jungen wie Dietrich so wütend zu machen, dass er den Kerl zuerst beherzt vom Pferd wirft und dann nicht mal ritterlich zum Schwertkampf absteigt!«
Im Krieg blieb der Ritter natürlich auf dem Pferd, wenn er seinen Gegner zu Boden geworfen hatte und bekämpfte ihn von der erhöhten Position aus weiter. Im Turnier galt das jedoch als unfein. Der Sieger im Tjost stieg gewöhnlich großmütig ab und stellte sich dem anderen im Schwertkampf zu Fuß.
»Aber im Turnier haben wir nicht in der Hand, wer gegen wen antritt«, sprach Florís weiter. »Wobei hinzukommt, dass Herr Dietrich unter den Knappen nur wenige Feinde hat - im Gegenteil, die meisten Jungen sind ihm herzlich zugetan.«
Gerlin nickte. Zu ihrer großen Freude hatte sich auch Rüdiger weniger dem angeberischen Theobald als dem Kreis um Dietrich angeschlossen. Neuerdings übte er sich genauso eifrig im Schach wie im Schwertkampf.
Florís sah dies aber nicht nur positiv. »Es besteht also die Gefahr, dass sie ihn aus falsch verstandener Freundlichkeit gewinnen lassen. Und dann steht er auf einmal einem Rüpel wie Theobald und seinen Kumpanen gegenüber. Ist Euch aufgefallen, dass Herr Roland die Kerle rund um diesen Bengel oft zu speziellen Waffenübungen einlädt? Letzte Woche sah ich ihn selbst mit Theobald kämpfen. Da braut sich doch etwas zusammen! Und im Turnier werde ich nicht neben den Kämpfenden stehen. Ich werde auf der Tribüne mitfiebern wie Ihr auch. Dietrich ist auf sich allein gestellt. Und ich habe Angst um ihn.«
»Lässt sich denn diese Turnierteilnahme auf gar keinen Fall umgehen?«, erkundigte sich Herr Salomon.
Ihr Ausritt hatte Florís und Gerlin auf das Landgut des Medikus geführt, eine Rittstunde von der Burg entfernt. Herr Salomon hielt sich zurzeit dort auf, erschien jedoch fast jeden Tag auf der Burg, um Dietrich und andere Knappen in den Künsten rund um Sternkunde, Philosophie und Strategie zu unterweisen. Dietrich lernte auch voller Eifer Latein und Griechisch, um die Schriften der Klassiker lesen zu können. Herr Leon und Herr Roland erklärten dies zwar für »nicht ritterlich« und boten alternativ weitere Kampfübungen an, und der Hofkaplan befürchtete, der Jude würde die Knappen gegen die Kirche beeinflussen, aber Dietrich bestand auf den Unterricht bei seinem jüdischen Meister. Sein Vater hatte den Medikus vor seinem Tod damit betraut, und lediglich sein Vormund hätte eine Handhabe gehabt, die Stunden zu verbieten.
Florís und Gerlin sah der Medikus dabei aber selten, und erst recht hatten sie keine Möglichkeit zu konspirativen Beratungen. Das Landgut bot da eine Ausweichmöglichkeit. Herr Salomon ließ besten Wein auftischen und bewirtete seine Gäste mit Brot, Früchten und Käse aus eigener Herstellung.
»Ist es nicht durchaus statthaft, dass ein Burgherr dem Turnier nur vorsteht, statt selbst mitzukämpfen?« Der Medikus äußerte seine Überlegungen, während er Gerlin Wein nachschenkte. Sie lächelte ihm zu. Wie immer fühlte sie sich getröstet in seiner Gegenwart.
»Am Tag seiner Schwertleite?« Florís schüttelte den Kopf und biss auf seine Unterlippe, eine Geste, die den Ritter jungenhaft wirken ließ. Aber es ziemte sich nicht, darüber zu lächeln, Florís' Verhalten nach erörterten sie hier wirklich todernste Probleme. Gerlin bemerkte das schon an seiner mangelnden Aufmerksamkeit ihr gegenüber. Während Salomon bei ihrem Eintreffen nicht mit Komplimenten zu ihrem rosigen Aussehen nach dem Ritt durch den Sommertag gespart hatte, fand Florís an diesem Tag keine Zeit für Schmeicheleien. Zu sehr sorgte er sich um Dietrich. »Also üblich ist das nicht. Aber dies ist natürlich eine Ausnahmesituation. Man müsste herausfinden, wie es sonst gehandhabt wird, wenn der Sohn eines Edelherrn durch die Schwertleite zum Herrn seiner Burg aufsteigt.«
Gerlin überschlug ihr Wissen über höfische Etikette. »In dem Fall steht dem Turnier in der Regel seine Mutter vor, die vorher die Regentschaft innehatte«, gab sie Auskunft.
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