Das Geheimnis Der Pilgerin: Historischer Roman
nebelgraue Augen leuchteten, als Gerlin ihm ein neues, besser sichtbares Tuch reichte. Es hatte die Farbe ihres Mantels und ihrer Augen, jeder würde sofort erkennen, für welche Dame Dietrich kämpfte. Der Junge konnte den Blick kaum von ihr wenden.
»Vielleicht würde es Eurer Kampfkraft aber noch mehr zugutekommen, wenn Ihr jetzt Euer Pferd aufwärmen und Euch noch ein bisschen besser mit ihm vertraut machen würdet!«, dämpfte Florís seine Begeisterung. Gerlin hoffte, dass wirklich die Sorge und keine kleinliche Eifersucht aus ihm sprach. »Reitet diesen Holzkrieger dort einmal an und zeigt uns die Technik, über die wir eben gesprochen haben - oder nein, zeigt sie Eurer Dame! Aber zeigen, nicht erklären! Mit einem Vortrag über Hebelwirkung und Beschleunigungsmomente ist Herr Roland nicht zu besiegen!«
Dietrich, der schon zu begeisterten Erläuterungen angesetzt hatte, ritt ernüchtert an. Er absolvierte die Übung mit dem Trainingsgerät tadellos - aber ob das reichen würde, um einen erfahrenen Ritter aus dem Sattel zu tjosten?
Am anderen Ende des Abreiteplatzes half Rüdiger gerade Herrn Roland in den Sattel und reichte ihm die Lanze. Gerlin würdigte ihren Bruder keines Blickes.
»Es wird Zeit, ich muss gehen«, sagte sie, als Dietrich sein Pferd triumphierend vor ihr anhielt. »Wollt Ihr noch einen Kuss vor dem Kampf, mein Ritter?«
Dietrich lüftete das Visier und schaute sie glücklich und erwartungsvoll an wie ein Kind, dem man Zuckerzeug versprochen hat. Ein bisschen mühsam in der schweren Rüstung beugte er sich zu ihr herab, und sie küsste ihn sanft auf die Wange.
»Das nächste Mal werde ich einen Sieger küssen!«, flüsterte sie ihm ins Ohr, während sie im Stillen die Finger kreuzte. Sie brauchte keinen Sieger. Sie wollte nur, dass ihr kleiner Verlobter lebend und möglichst gesund zu ihr zurückkam.
Gerlin kehrte zurück auf ihren Platz neben Frau Luitgart. Dietrichs Stiefmutter lächelte triumphierend. Roland ritt an diesem Tag ganz offen mit ihrem Zeichen in die Schranken. Gerlin biss sich auf die Lippen. Die beiden mussten sich sehr sicher fühlen. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass auch ihr Vater die Stirn runzelte. Peregrin von Falkenberg war ein guter Beobachter. Schon nach wenigen Stunden auf der Burg musste ihm klar geworden sein, in welches Intrigenspiel seine Tochter da geraten war.
Der Herold kündigte jetzt den Schaukampf zwischen den Verwandten an, und Gerlin sah, wie Dietrich sich straffte, als man ihn als »Ritter« bezeichnete. Sie erkannte auch Rüdiger am Ende der Kampfbahn. Der Knappe wirkte nervös und sehr blass.
Schuldbewusst.
Gerlin fragte sich, ob er an Rolands bösem Spiel beteiligt war, aber das konnte und wollte sie nicht glauben. Florís schob sich im letzten Moment vor dem Kampf neben sie. Unten konnte er nichts mehr tun, und von der Ehrentribüne aus hatte er den besten Blick auf die Reiter.
Der Herold rief nun zum ersten Tjost, und die Ritter schauten erwartungsvoll zu ihnen hinauf. Frau Luitgart sollte das Zeichen zum Anreiten geben, das erst erfolgen konnte, wenn beide Pferde mit allen vier Beinen auf dem Boden standen. Der Schimmel Floremon schaffte das bald, aber Rolands riesiger Rappe tänzelte. Dietrich hatte seine Lanze genau so eingelegt, wie Salomon und Florís ihm geraten hatten. Es war die klassische Position, sie zielte darauf, den Unterleib des Gegners zu treffen und den Mann damit aus dem Sattel zu heben. Meistens gelang das nicht, da sich die Ritter mit dem Schild schützten, aber dabei kamen sie oft aus dem Gleichgewicht und fielen dann auch vom Pferd. Einem erfahrenen Kämpfer wie Roland würde das zwar kaum passieren, aber wenn Dietrich gut traf, wäre ihm der Beifall der Zuschauer sicher, und nur darum sollte es bei einem Schaukampf ja eigentlich gehen.
»Dieses Schwein!«
Gerlin hatte solche Ausdrücke nie von Florís gehört, aber jetzt zischte er die Worte, als er sah, wie Roland die Lanze einlegte. Er zielte sehr viel höher als Dietrich, dazu brauchte man mehr Technik und mehr Kraft. Es war ungleich schwieriger - aber bei einem Treffer auch sehr viel effektiver. Roland von Ornemünde zielte auf den Hals seines jungen Verwandten. Wenn er traf - und es Dietrich nicht gelang, den Stoß mit dem Schild abzuwehren -, konnte eine scharfe Lanze zwischen Helm und Brustpanzer eindringen, das Kettenhemd durchstoßen und den Hals des Gegners durchbohren. Eine durch Lederüberzug stumpf gemachte Lanze, wie sie auf Turnieren
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