Das Geheimnis der Puppe
begriff die Hilflosigkeit des Mannes. Es hob die Flasche mit beiden Händen, hielt sie ihm an die Lippen. Er trank gierig, ließ den Kopf zurück auf die harte Stufe sinken und schloß die Augen wieder.
»Kannst du auch Hilfe holen.«
fragte er nach einer Weile. Das Kind stieg noch ein wenig höher hinauf und setzte sich neben seinen Kopf auf die Treppenstufe. Die halbleere Flasche stellte es sich zwischen die Beine. Dann berührte es vorsichtig die schweißfeuchte Stirn des Mannes. Er hielt die Augen geschlossen, und manchmal stöhnte er leise auf.
»Willst du jetzt hier sitzen bleiben.«
murmelte er nach einer Weile.
»Ich weiß nicht, ob ich das ertrage. Geh lieber, geh ein bißchen nach draußen. Und wenn da draußen jemand ist, dann bring ihn hierher.«
Von all den Worten verstand das Kind nur eines.
Draußen. Wie eine warme Flut ergossen sich die leuchtenden Dinge in seinen Kopf. Aber die zweite Frau war nicht da, und so zögerte es. Nach einer Weile flüsterte der Mann noch einmal:
»Geh nach draußen. Du mußt gehen. Die Tür ist offen.«
Da erhob es sich endlich, kroch mit den Füßen zuerst die Treppe hinunter. Der Mann sah ihm nach, bis es um die Ecke verschwand. Er hörte die zögernden Schritte, die sich langsam entfernten. Einmal machten sie noch Halt.
Das Kind holte seine Puppe aus dem Winkel. Dann näherte es sich vorsichtig der großen Öffnung. Blieb dabei stehen und spähte hinaus in das Licht. Länger als eine Stunde wartete es auf die zweite Frau, ehe es den ersten Schritt hinaus wagte. Es schaute sich nicht um, hielt den Blick auf die Dinge gerichtet, die in einiger Entfernung vor ihm waren. Sie waren noch genau so, wie es sie zuletzt gesehen hatte. Ohne Laub, grau und dürr. Der vertraute Anblick half ein wenig. Die Puppe fest im Arm, ging es mit unsicheren Schritten auf die kahlen Büsche zu. Ging weiter und weiter. Nach vielen Schritten kam das Kind an das große Gefäß. Die Oberfläche glänzte matt, und sein eigenes Gesicht spiegelte sich darin. Und als es mit den Fingern darüber streichen wollte, wurde ihm die Hand feucht und tauchte in die Fläche ein. Da begriff es. Es hockte sich hin und wedelte mit seiner Hand das Wasser hin und her. Die ersten Tage in Steiners Haus müssen für Laura eine Katastrophe gewesen sein. Mir klingt das noch im Ohr:»Ich weiß gar nichts von ihr.«
Und was wußte ich von Laura? Als wir einzogen, kannten wir uns seit neun Jahren, lebten seit acht Jahren zusammen, waren seit sechs Jahren verheiratet. Und für mich war Laura in all den Jahren die ideale Frau gewesen. Kein Problem, das sie nicht mit einem Lächeln und einem Achselzucken beiseite schaffte. Über alles konnten wir reden, solange es mich und meine Arbeit betraf. Und vor mir die Sintflut. Zwanzig Jahre, die Laura hinter Schloß und Riegel gehalten hatte, von denen nur sporadisch ein Bröckchen an die Oberfläche stieg. Ich hatte sie mir angeschaut, diese Bröckchen, aber wirklich Gedanken darüber hatte ich mir nicht gemacht. Ich machte mir lieber Gedanken über das sanfte Grauen und den blanken Horror. Bis es dann nicht mehr ging, bis Laura in dieses Haus kam, wo all das Elend seinen Ursprung genommen hatte, wo Laura an den aufsteigenden Bröckchen zu ersticken drohte. So sehr ich mich in der Nacht auch bemühte, sie war nicht bereit, mit mir hinaufzugehen. Ich saß eine Weile auf der Bettkante, und Laura beruhigte sich ganz allmählich. Dann bat sie eindringlich:»Laß mich einfach in Ruhe, Tom. Ich komme schon zurecht damit.«
Sie legte sich wieder auf den Rücken, starrte zur Decke hinauf. Wie in einem Selbstgespräch begann sie vor sich hinzumurmeln.
»Seit gestern stelle ich mir vor, daß sie einmal herkommt. Nur einmal, mehr will ich gar nicht. Ich will nur sehen, wie sie reagiert, wenn sie durch das Haus geht. Natürlich würde ich niemals etwas über diese Kammer zu ihr sagen. Keine gehässigen Bemerkungen. Das ist es ja, was mir so zu schaffen macht. Irgendwie steht man immer unter dem Zwang, Rücksicht zu nehmen. Aber wann hat sie denn einmal Rücksicht genommen? Diese Krankheit ist der pure Egoismus. Sie läßt sich einfach hineinfallen. Und dann kann sie tun und lassen, was sie will. Und in all den Jahren mußten wir eben zusehen, wie wir damit fertig wurden, und daß wir sie wieder in die Höhe brachten. Und jedesmal hatte ich das Gefühl, ich hätte sie hinuntergestoßen. Dann habe ich es so gemacht wie jetzt. Mich in einer Ecke verkrochen, wie ein Kettenhund losgeheult
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