Das Geheimnis der Rose
Mrs. Florence.
Die ältere Schauspielerin war aus gesundheitlichen Gründen und wegen der gesellschaftlichen Ablenkung in die Stadt gekommen und voller Lob über Julias Vorstellung in Geliebte Lügnerin. Mrs. Florence lud sie ein, sich am Morgen in der Trinkhalle zu treffen, und Julia zögerte nicht und sagte zu. Es war bereits mehrere Monate her, seit sie die ältere Frau in London besucht hatte, obwohl sie in derselben Straße wohnten. Irgendwie verging die Zeit immer viel zu schnell, und Julia hatte ein schlechtes Gewissen, ihre Freundin nicht besucht zu haben.
Als sie sich in der Trinkhalle trafen, freute sich Julia, dass Mrs. Florence ebenso lebendig wie immer wirkte. Ihre verblassten roten Haare waren zu modischen Schnecken auf dem Kopf frisiert, und ihr Gesicht strahlte eine hohe Klugheit aus. Sie trug ihr Alter mit Anmut, wie eine Marmorstatue, die mit der Zeit langsam verwittert und reift.
Mrs. Florence saß an einem kleinen Tisch, hatte ein Glas Mineralwasser vor sich stehen und lauschte der Musik, die von einem Streichquartett gespielt wurde. Sobald sie Julia sah, strahlten ihre Augen erwartungsvoll.
»Mrs. Florence!« rief Julia und freute sich aufrichtig, sie zu sehen. Es war offensichtlich ein Zeichen der Vorsehung, dass ihre Mentorin genau in dem Moment, da sie sie brauchte, nach Bath gekommen war Sie setzte sich neben die ältere Frau und nahm deren weiche, fein zerfurchte Finger in die Hand. Mrs. Florence trug kostbare Brillantringe und ein schmales Armband aus Perlen und Granat. »Sie sehen wunderbar aus, wie immer.«
»Es ist lange her, dass Sie mich besucht haben«, sagte Mrs. Florence mit freundschaftlichem Vorwurf. »Schließlich wurde mir klar, dass ich nach Bath kommen musste, um Sie zu sehen.«
Julia stotterte Entschuldigungen und Erklärungen und lächelte zerknirscht. »Ich war sehr beschäftigt. Sie können sich nicht vorstellen …«
»O doch, ich glaube, das kann ich«, unterbrach Mrs. Florence sie trocken. »Ich bin noch nicht so alt, dass ich mich nicht an die Verpflichtungen einer beliebten Schauspielerin erinnern kann.« Sie betrachtete Julia voller Zuneigung.
»Sie können den Schleier abnehmen, Kind. Ich halte alle diese Bewunderer und Neugierigen schon in Schach.«
Julia tat wie geheißen, hob den Schleier ihres kleinen Huts und spürte sofort die Blicke der Neugierigen, die sich auf sie richteten. Zwei untersetzte Frauen mit aufgeregten Gesichtern sprangen auf, um zu ihrem Tisch zu kommen.
Geschickt hob Mrs. Florence ihren Stock, der an ihrer Stuhllehne gehangen hatte, und richtete ihn auf die beiden Frauen, um sie zu vertreiben. »Ein andermal«, sagte sie bestimmt. »Meine junge Freundin und ich haben eine private Unterhaltung.«
Eingeschüchtert zogen sich die Frauen zurück und murmelten protestierend vor sich hin, während Julia ein bewunderndes Lachen unterdrückte. »Sie sind eine Tigerin, Mrs. Florence.«
Die ältere Frau winkte das Lob ab. »Ich segne den Tag, als ich endlich grob zu den Leuten sein konnte und sie es aufgrund meines Alters entschuldigten.« Sie erwiderte Julias Lächeln. »Sie haben sich zu einer großartigen Schauspielerin entwickelt, Jessica. Ich war so glücklich und stolz, Sie gestern abend auf der Bühne zu sehen und daran zu denken, dass ich ein kleines bisschen für Ihren Erfolg mitverantwortlich bin.«
»Ich verdanke Ihnen alles – Ihrem Rat, Ihrer Anleitung und Ihrer Ermutigung, mich dem Capital anzuschließen.«
»Offensichtlich haben Sie alles erreicht, was Sie sich erträumt haben«, bemerkte Mrs. Florence mit leicht fragendem Blick. »Weshalb sehen Sie dann nicht glücklich aus, meine Liebe?«
Bedauernd erkannte Julia, dass ihre Freundin sie zu gut kannte, um sich von einer Fassade täuschen zu lassen. Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und seufzte. »Erinnern Sie sich an unsere Unterhaltung vor Jahren, als Sie mir erzählten, dass Sie den Mann ihres Herzens nicht heirateten, weil er wollte, dass Sie das Theater verließen? Sie deuteten an, dass ich eines Tages vor dem gleichen Dilemma stehen könnte, und ich glaubte Ihnen nicht.«
»Und jetzt ist es so«, stellte Mrs. Florence fest, und in ihren Augen funkelte Verständnis. »Es verschafft mir keinerlei Befriedigung, dass ich recht hatte, Jessica. Ich habe Ihnen das nicht gewünscht – es ist ein ganz besonderer Schmerz, nicht wahr?«
Julia nickte und war plötzlich nicht mehr in der Lage zu sprechen. Brust und Hals waren ihr auf unerträgliche Weise
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