Das Geheimnis der Rosenkreuzerin
Verlust der Eltern und die grausamen Bilder, die sich ihnen tief eingeprägt hatten, trieben sie unermüdlich an, verlangten nach der einen und einzigen Antwort auf die Frage, wie Gott das Grauen zulassen konnte. Und wenn hierfür schon keine Er klärung gefunden werden konnte, so musste doch zumindest ein Weg existieren, auf dem man zu Gott käme, auf dem man Gottes Welt verwirklichen und Mord und Gier, Neid und Habsucht, Sadismus und Gleichgültigkeit, Brutalität, mit einem Wort, das Böse ein für alle Mal zu verdammen vermochte. Wenn Gott wirklich die Welt erschaffen hatte, dann widersprach es seiner Defini tion, dass er dabei die Möglichkeit des Glücks vergessen haben sollte.
Sowohl Mechthild als auch Johannes gaben den Geschwistern sehr persönliche, sehr individuelle Antworten. Für sie war es nur dem einzelnen Mensch vorbehalten, auf geheimnisvollem, aber einsamem Weg zum Allerhöchsten zu gelangen und in der Vereinigung mit ihm das vollkommene Glück zu finden. Christian jedoch zwei felte an der mystischen Lehre seines Meisters. Denn wozu bedurfte es der materiellen Welt, wenn Glück nur in der Flucht vor ihr zu erreichen wäre? Und Maria vermochte einfach nicht zu akzeptieren, dass so viele wehrlose Frauen und unschuldige Kinder leiden und ausgeschlossen bleiben sollten von dem persönlichen Weg zu Gott und von der Glückseligkeit.
Mit einer Intensität, als ginge es um ihr Leben, suchten sie in den Schriften der Alten, in den Werken der Kirchenväter, in der Bibel und den Lehren der Theologen und Philosophen und im Denken ihrer Lehrer nach Antworten, wie eine gute Welt möglich wäre, ohne sie jedoch wirklich zu finden. Ihr Verlangen blieb ungestillt, doch konnten sie nicht von der Suche lassen, wenn sie sich nicht verlieren wollten. Es war das erlebte Grauen, das sie immer von neuem antrieb, endlich einen höheren Sinn in all dem Leid und Blut zu entdecken, um nicht von ihren Erlebnissen wahnsinnig zu werden.
So verging die Zeit wie im Fluge. Sie kamen im Studium der Heiligen Schrift und einiger Theologen verblüffend schnell voran. Maria genoss die Unterweisung in Heilkräutern und Pflanzenkunde bei den Beginen. Manchmal scherzte Maria, wenn sie wieder einmal einen Nachmittag mit ihrem Bruder verbringen durfte, dass sie sich als Mann verkleiden würde, um ihn zum Studium an die Hohe Schule begleiten zu können. Und Christian lachte darüber, fragte sie scherzend, ob sie sich einen Bart stehen lassen würde, freute sich aber insgeheim dar über, dass Maria vorhatte, ihn an die Universität zu begleiten. So malten sich die Geschwister an den beiden Nachmittagen in der Woche, an denen sie heimlich zusammenkamen, ihre Zukunft aus.
Eines Tages aber druckste Christian, inzwischen siebzehn Jahre alt, nach der gemeinsamen Lektüre im Arbeitszimmer des Predigerbruders verlegen herum, bis er sich endlich ein Herz nahm und sich von Maria verabschiedete, weil er am nächsten Tag mit Bruder Johannes zu einer Wallfahrt aufbrechen würde.
»Wohin?«, fragte Maria, erschrocken und neugierig zugleich.
»Wohin? Nach Jerusalem doch! Dorthin, wo alles begonnen hat!«
»Ja, dort hat tatsächlich alles begonnen. Wenn es eine Antwort auf die Frage gibt, wie Gott den Mord an unseren Eltern, an unseren Verwandten und an all den anderen armen Menschen zulassen konnte, dann finden wir sie in der Heiligen Stadt.« Maria legte den Kopf schief. »Erinnerst du dich noch?«, fragte sie ihren Bruder, dann begann sie, so leise auf Hebräisch zu singen, dass man sie kaum hören konnte:
»Ich freute mich über die, die mir sagten:
Lasset uns ziehen zum Hause des HERRN!
Nun stehen unsere Füße in deinen Toren, Jeruschalajim.«
Und Christian fiel ein:
»Jeruschalajim ist gebaut als eine Stadt,
in der man zusammenkommen soll,
wohin die Stämme hinaufziehen,
die Stämme des HERRN …«
Weil er stockte, übernahm sie wieder:
»… Es möge wohlgehen denen, die dich lieben!
Es möge Friede sein in deinen Mauern
und Glück in deinen Palästen!«
Als sie geendet hatte, versetzte sie ihrem Bruder einen freundschaftlichen Stoß. »Wann rückst du endlich heraus damit?«
»Womit?«
»Mit der Frage, ob ich mitkomme?«
Christian schaute traurig nach unten. »Du weißt, dass das nicht geht.«
Maria hatte den Vorstoß wider besseres Wissen unternommen, denn sie ertrug den Gedanken nicht, sich von ihrem Bruder zu trennen. »Warum denn nicht? Wir wollten doch auch gemeinsam studieren?!« »Der Weg nach Paris oder nach Erfurt ist
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