Das Geheimnis der Rosenkreuzerin
Gedicht ein, das jemand vor unendlich langer Zeit einmal in ihr Poesiealbum geschrie ben hatte:
Schläft ein Lied in allen Dingen
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort
Auf einmal fühlte sie sich wie Alice im Wunderland, dreh te sich im Kreis und klatschte in die Hände. »Großartig! Hier richte ich meine Praxis ein. Vorne das Wartezimmer und das Spielzimmer und im Vestibül der Empfang. Und aus diesem Saal werden zwei Behandlungszimmer.«
»Du willst doch nicht etwa hierbleiben?« Katharina fühlte sich überrumpelt. Das übliche Misstrauen, das Marta schon seit Stunden vermisste, blitzte wieder in den Augen ihrer Tochter auf.
»Du etwa nicht?«, fragte sie unschuldig.
»In diesem Kuhdorf?« Katharina klang zwar empört, ihr Protest jedoch nicht unüberwindlich.
»Wo ist denn hier eine Kuh?«, fragte Benjamin mit großen Augen. Eine Kuh hätte das Stadtkind sehr gern gesehen, ein richtige, lebende.
»Das verstehst du noch nicht«, wiegelte Katharina ab, sichtlich darum bemüht, ärgerlich zu bleiben.
»Na ja, Kühe müssen ja nicht unbedingt sein, aber einen Hund will ich haben, wenn wir schon hierbleiben. Einen großen Hund!«, stellte Benjamin schon einmal seine Bedingungen.
»Kommt, suchen wir unsere Zimmer aus«, schlug Marta nicht ohne Hintergedanken vor. Das brauchte ihrem Sohn keiner zweimal zu sagen, er rannte los und schoss wie ein Wirbelwind die Treppe in die obere Etage hinauf. Katharina blieb nichts anderes übrig, als ihm so schnell wie möglich zu folgen, wenn sie sich von ihrem kleinen Bruder bei der Auswahl des Zimmers nicht über vorteilen lassen wollte.
Marta beschloss, der Krise durch die Veränderung ihres Lebens den Nährboden zu entziehen. Im Grunde entschied sie sich für die Flucht aus Hamburg. In der Rekordzeit von drei Monaten kündigte sie in Hamburg und organisierte die Finanzierung für den Umbau der Praxis- und Wohnräume des Hauses sowie den Umzug von Hamburg nach Altdorf. Nicht ganz so einfach gestalteten sich die Ummeldungen der Kinder mitten im Schuljahr, aber hier zeigte sich die Stadtverwaltung von Altdorf, der es gefiel, dass eine weitere Kinderärztin im Ort eine Praxis eröffnete, sehr hilfreich.
Sie spürte, dass die rasante Veränderung Katharina im Grunde überforderte. Während Benjamin die Villa und der Park, das neue Zimmer und die schier unendlichen Spielmöglichkeiten begeisterten und er, der auf der noblen Privatschule in Hamburg eher als Außenseiter gegolten hatte, schnell Anschluss fand, fehlten Katharina zwar einerseits die Freunde und die Stadt, andererseits genoss sie aber das neue Verhältnis, das sich zu ihrer Mutter entwickelte, weil Marta sie bei der Umgestaltung, Einrichtung nach Kassenlage und Eröffnung der Kinderarztpraxis klug mit einbezog. So gestaltete Katharina den kompletten Internetauftritt der Praxis, und Marta ließ sich den Stolz auf ihre Tochter durchaus anmerken. Sie hatte Abstand genommen von tiefschürfenden psychologisierenden Gesprächen, die letztlich alles nur schwieriger statt einfacher machten. Stattdessen bat sie Katharina um Hilfe, schenkte ihr Vertrauen und beteiligte sie an der Verantwortung für ihr neues Leben.
Selbst den Widerstand von Alexander Rubin, der nicht hinnehmen wollte, dass ihm seine Kinder entzogen und nach Süddeutschland verpflanzt wurden, vermochte sie zu überwinden. Er hatte sogar versucht, Katharina aufzuwiegeln. Doch das Mädchen, das ihren Vater zwar anhimmelte, blieb reserviert, denn sie fühlte sich ernst genommen und in das große Abenteuer, das ihre Mutter begonnen hatte, einbezogen, so dass ihr alles andere wie ein Verrat erschienen wäre. Wenn sie etwas von ihrer Mutter geerbt hatte, dann deren strikte Loyalität bis hin zur Sturheit.
Marta fühlte sich indessen wie im Paradies, als hätte ihr Großvater weit über das Grab hinaus Vorsorge für sie getroffen.
Das dachte sie zumindest bis zu jenem Freitag, an dem sie am späten Nachmittag mit ihren Kindern vom Wo chenendeinkauf in die Villa zurückkehrte. Schon als sie die Tür aufschloss, beschlich sie das merkwürdige Ge fühl, dass ein Fremder an der Tür gewesen war und sich Einlass verschafft hatte. Und das Gefühl trog sie nicht. Die Türen des Kleiderschrankes im Vestibül standen offen, die Schubladen im unteren Bereich des Schrankes hingen heraus. Jemand hatte sie durchwühlt, dabei waren Handschuhe und Schals achtlos auf dem Boden verstreut worden. Marta schaute sich ratlos
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