Das Geheimnis der Rosenkreuzerin
spottete Marta und stellte ihrer Tochter demons trativ den Seesack und die beiden Koffer vor die Füße. Hatte sie in Hamburg beim Einladen ihrer Tochter aus taktischen Gründen noch geholfen, entfiel hier jeder Grund dafür. Und ein wenig Strafe muss sein, dachte Marta. Schließlich brachte sie es dann doch nicht übers Herz, nahm ihre Reisetasche in die linke, einen der beiden Koffer ihrer Tochter in die rechte Hand und betrat das Foyer. Katharina murmelte ein paar verdruckste Laute, die man bei großzügiger Auslegung als das Wörtchen »Danke« verstehen konnte.
Das Hotelzimmer war geräumig und gediegen, das Abendessen reichlich. Vor dem Einschlafen spielten sie noch »Mensch ärgere dich nicht«. Selbst Katharina beteiligte sich an dem Kinderspiel. Natürlich nur Benni zuliebe, wie sie behauptete, aber sie blieb beim Albern, Schimpfen und Frotzeln nicht hinter der Mutter und dem Bruder zurück.
Marta legte ein gummiertes Laken auf Benjamins Bett, für den Fall der Fälle, der Gott sei Dank ausblieb. Jetzt, wo sie Zeit für ihren Sohn aufbrachte, wirkte er entspannter. Sie schlief beim Erzählen der Gutenachtgeschichte ein, während Katharina unter den Kopfhörern ihres MP3-Players abgetaucht war und eine Musik hörte, der Marta nichts abgewinnen konnte. Vielleicht war sie auch einfach nur zu alt dafür.
Geschäftiges Treiben auf dem Marktplatz weckte sie am frühen Morgen. Ein Blick auf die Kinder verriet ihr, dass sie noch fest schliefen. Sie trat ans Fenster und schaute einem fremden Leben zu. Lieferanten brachten Waren, die Stadtreinigung fegte den Platz und leerte die Abfalleimer. Die Routine, in der all dies stattfand, wirkte beruhigend und vertrauenerweckend. Alles hatte seinen Sinn, seine Zeit und seinen Platz. Sie sehnte sich nach solcher Überschaubarkeit.
Die Formalitäten, die sie in der Stadtverwaltung und beim Notar zu erledigen hatte, ließen sich wider Erwarten bereits am Vormittag abschließen, so dass sie sich am Mittag voller Neugier mit den Kindern auf den Weg zu ihrem unerwarteten Erbe machen konnte.
Als sie vor einem hohen Tor aus dem Auto stiegen, trauten sie kaum ihren Augen. Verwunschen schmiegte sich eine Fachwerkvilla in einen Park. Selbst Katharina gelang es nicht, ihre Überraschung hinter dem üblichen gelangweilten Gesichtsausdruck zu verstecken, wie Marta mit einem Seitenblick auf ihre Tochter zufrieden feststellte.
Hinter einer kniehohen Mauer, die in regelmäßigen Abständen von mannshohen Säulen mit Ziegelstempeln unterbrochen wurde, erstreckte sich ein imposanter Park. Ein Kiesweg teilte den gepflegten Rasen und schwang sich in einem kühnen Halbkreis zu einer imposanten Gründerzeitvilla hinauf. Marta, Benjamin und sogar die coole Katharina fühlten sich in ein Märchen versetzt, als sie dem Weg folgten und schließlich vor der doppelflügeligen Holztür mit den geschliffenen Fenstern standen.
»Und das gehört wirklich uns?«, fragte Katharina.
»Ja. Ich kann es selbst noch nicht glauben.« Marta steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn zweimal um. Sowohl das Schloss als auch die Tür sprangen auf, als hätten sie nur darauf gewartet.
»Aber es ist wirklich unser Eigentum. Ich habe es schwarz auf weiß, vom Notar bestätigt!«, sagte sie, wie um sich selbst noch einmal zu vergewissern, bevor sie beherzt und mit angehaltenem Atem die Villa betrat. Sie hatte das Gefühl, nicht nur über eine Haustürschwelle, sondern in ein neues Leben zu treten. Das Vestibül öffnete sich halbkreisförmig und war in einem zarten Hell blau gehalten. Es ging in einen Korridor über, der ins Innere der Villa führte und von dem rechts ein Treppenhaus und links mehrere Räume abgingen. Sie folgten dem Flur, öffneten die hintere Tür, in deren Blatt fein geschliffenes Glas eingelegt war, und befanden sich im nächsten Moment auf einer Terrasse. Von dieser aus erreichte man über verwitterte Kalkstufen einen kleinen Park mit Tannen, Kiefern, Kastanien, Sträuchern, Tul pen und Magnolienbäumchen. Vom Blick auf den Park beeindruckt, kehrten sie wieder ins Haus zurück. Unter der Treppe duckten sich zwei Toiletten. Gegenüber döste hinter einer breiten Fensterfront ein Saal, der etwas Verwunschenes hatte, weil über die Möbel gespensti sche weiße Laken gebreitet waren. Die hellen Tapeten mit zarten Motiven von Schreitvögeln verwiesen auf eine Zeit, in der das Auto noch Automobil und die schnellste und modernste Nachrichtenübermittlung Tele graph hieß. Marta fiel ein
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