Das Geheimnis der Rosenkreuzerin
splitterte, Riegel flogen scheppernd aus ihren Halterungen. Sie schreckte hoch und saß einen Moment lang wie erstarrt da. Alle Sinne ordneten sich dem Gehör unter, das so fein und emp findlich wurde, dass es selbst den Flügelschlag einer Fliege wahrgenommen hätte. Dieser Subtilität hätte es indessen nicht bedurft, denn das Böse war laut, nicht leise. Es zischelte nicht, es brüllte. Unwillkürlich presste sie zum Schutz die Hände an die Ohren. Untermalt von grimmigen Männerstimmen und dem Schreien von Frauen trampelten und stolperten Schritte über die Stufen hinweg, leichte und schwere, angstvolle und selbstgewisse, zornige und panische Schritte, fliehende und verfolgende Schritte, in denen die Lust am Töten durchhallte, sowie Schritte, in denen bereits der Tod anklang. In diesem Augenblick lernte sie die Sprache der Schritte und bekreuzigte sich. Vor allem warnten sie sie, dass sich die Gefahr rasch näherte. Wer auch immer den Beginenhof stürmte, er kam nicht in freundlicher Absicht. Während die Beginen von den Dominikanern geschützt wurden, hasste sie der Bischof August von Virneburg. Steckte er hinter dem Überfall? Sie verzichtete zunächst darauf, über die Ursache der Unruhe nachzudenken, sondern sprang auf und kletterte aus dem Fenster des Schlafsaales, denn die Kakophonie der Fußgeräusche vor der Treppe warnte sie, dass diese zu einer Falle für sie werden würde. Jetzt ging es erst einmal darum, sich in Sicherheit zu bringen.
Nachtwind wehte ihr erfrischend ins Gesicht. Es hätte eine schöne Nacht sein können. Doch der Teufel hasste die Schönheit. Den Rücken dicht an das Fachwerk gepresst, setzte sie seitwärts Fuß an Fuß, wobei sie acht gab, nicht nach unten zu schauen. Aus der Tiefe drangen nur Geräusche der Angst und der Not an ihr Ohr.
Nachdem sie das Gebäude fast umrundet hatte, brei tete sie die Arme so weit es ging aus und presste den Leib fest gegen die Lehmwand, bevor sie auf den Platz hinunterschaute. Unter sich entdeckte sie einen Heu wagen. Marias Blicke suchten den Platz nach Menschen ab, die sie hätten beobachten und verraten können. Doch der Platz war leer. Diese Chance musste sie nutzen. Sie sprang hinunter und landete weich im Heu. Keine Minute zu früh. Denn von der Straße näherte sich ein weiterer Trupp von Schergen des Bischofs. In schwarzes Leder gewandet, erinnerten sie in der Dunkelheit an ein Bataillon von Kakerlaken. Die Bewaffneten entdeckten Maria nicht.
Als die Männer an ihr vorbei und im Beginenhof verschwunden waren, schaute sie sich wieder sorgfältig um, bevor sie an der dem Mond abgewandten Seite vom Wagen kletterte und in die kleine Gasse huschte, die gegenüber des Beginenhofes vom Platz abging. Sie atmete innerlich auf, als die Finsternis der Gasse sie wie eine Tarnkappe umgab. Aber ihre Beine waren wie gelähmt, sie vermochte nicht wegzulaufen und sich in Sicherheit zu bringen, bevor sie nicht wusste, was noch geschehen würde. Im Schutze der Schwärze eines schiefen Hauses schaute sie zu ihrer Unterkunft hinüber, zu dem Haus, in dem sie Schutz, Fürsorge, Freude und Freundinnen gefunden hatte, etwas, das sich zumindest so anfühlte wie Leben, nachdem sie mit ihrer Mutter, ihrem Vater und all den anderen Juden gestorben war. Seitdem war Gott tot für sie – oder vielleicht auch nur stumm. Seitdem suchte sie ihn. Und hoffte so sehr, dass es ihn gab.
Was sich jetzt vor ihren Augen abspielte, schmerzte sie, auch wenn sie es nicht zum ersten Mal sah. Die Büttel August von Virneburgs jagten und zerrten die Beginen aus dem Haus und trieben sie auf dem Platz zusammen. Einige wirkten verängstigt, andere beteten. Inmitten all dieser Panik und Angst entdeckte Maria plötzlich Mechthild, deren grazile und charismatische Gestalt wie aus einer anderen Welt zu kommen schien. Erleichterung und Sorge hielten sich bei Maria die Waage, Sorge, weil die Oberin umkommen konnte, Erleichterung, weil sie die Einzige war, die das Schicksal, das den Beginen zugedacht war, zu wenden vermochte.
Mechthild wirkte vor allem sicher und ruhig. Sie hieß die Frauen, sich an den Händen zu fassen. Dann stimmte sie das Laudate Dominum an, und alle sangen mit.
Laudate Dominum omnes gentes,
Laudate eum, omnes populi…
Man tat ihnen Gewalt an, und sie lobten Gott. Maria war beeindruckt von der unbeugsamen Kraft, die von den singenden Frauen ausging. Stumm fiel sie in den Gesang ein:
Et veritas Domini manet in aeternum.
Gloria Patri et Filio et Spiritui Sancto.
Ja,
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