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Das Geheimnis der Rosenkreuzerin

Das Geheimnis der Rosenkreuzerin

Titel: Das Geheimnis der Rosenkreuzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Klausen
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nicht schon zweimal zurückgeblieben – das erste Mal, als ihre Eltern ermordet worden waren, und das zweite Mal, als sie ihrem Bruder auf dem Weg zur Wallfahrt nachsah? Dazugehören, nicht erneut zurückbleiben, war der einzige Wunsch, der sie beseelte.
    Doch bei dir ist Vergebung, damit man in Ehrfurcht dir dient.
    Ich hoffe auf den Herrn, es hofft meine Seele, ich warte voll Vertrauen auf sein Wort.
    Jetzt ergriffen die Henkersknechte vier Frauen und pferchten jeweils zwei in einen Käfig. Dann wurden die Käfige über die Brückengeländer gehoben und ins Wasser gelassen. Die übrigen Frauen ließen in ihrem Gesang nicht nach:
    Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen.
    Mehr als die Wächter auf den Morgen, sang Maria stumm mit, mit einer Intensität, dass ihr die Stimmbänder brannten, obwohl sie doch keinen Laut von sich gab, als seien die Töne aus Disteln und Brennnesseln.
    Zweimal lief der Sand durch das Stundenglas des Schreibers Konrad, ehe die Käfige wieder hochgezogen wurden. Wasser strömte heraus. Wie nasse Kleiderbündel lagen die ertrunkenen Beginen schlaff über- und nebeneinander. Maria erkannte, dass sie sich im Tode umarmt hatten. Sie hatte das Gefühl, dass ihr das Herz stehen blieb und sie mit ihnen starb. Schließlich kam Mechthild von Helfta an die Reihe. Maria brach durch die Menge und fiel ihr zu Füßen. Mechthild bückte sich zu ihr.
    »Nimm mich mit, lass mich nicht zurück«, bat sie mit rauer Stimme.
    »Nein, dir ist ein anderer Weg bestimmt. Große Aufgaben liegen vor dir. Meistere sie und enttäusche uns nicht. Gott hat dich erwählt.« Mechthild malte mit dem Daumen ein Kreuz auf Marias Stirn.
    »Welche Aufgaben?«, fragte sie noch, doch da hatte sie bereits ein Büttel gepackt.
    »Wie haben wir es denn, Mönchlein?«, zischte er und schleuderte Maria zurück in die Masse der Zuschauer. Maria strauchelte, fing sich aber wieder und schaute zu ihrer Oberin. Würdevoll schritt Mechthild nun zum Käfig und betrat ihn. Die Menge, die gejohlt und sich mit plumpem Spott unterhalten hatte, verstummte. Mild schaute sie auf die Menschen. Was mochte sie jetzt denken?, fragte sich Maria. Wie ein Sturm brach plötzlich in der Menge das Verlangen los: »Wir wollen Mechthild hören!« – »Lasst uns Mechthild hören!« – »Psst!« – »Seid still!« – »Die heilige Mechthild soll zu uns sprechen!«
    Die Beginen verstummten. Und auch die Zuschauer schwiegen und sanken auf die Knie. Die Oberin war eine Heilige für sie, trotzdem ließen sie es zu, dass man sie hinrichtete. Möglicherweise war es ja aber Gottes Willen, dass die Heilige das Martyrium als Krone ihres Lebens erleiden sollte. Mechthild schaute nun zu den Menschen, von einem zum anderen. Und der Blick ihrer gütigen Augen traf jedes Herz. Nicht einmal der Sekretär wagte, auch nur einen Mucks von sich zu geben. Nur zu gut wusste er, dass die Menge ihn dann in ihrer Wut zerfleischen würde.
    Mechthild kniete nieder und faltete die Hände zum Gebet. Dann erklang ihre Stimme, nicht laut, nicht angestrengt, und dennoch für alle hörbar: »Ich kann nicht tanzen, Herr, wenn du mich nicht führst! Willst du, dass ich tüchtig springe, so musst du selbst zuerst der Vorsänger sein. Dann springe ich in die Liebe, von der Liebe in die Erkenntnis, aus der Erkenntnis in den Genuss, aus dem Genuss höher als alles menschliche Denken. Dort will ich bleiben und will doch weiter streben. Denn die frei gewählte Liebe wird stets das Höchste an den Menschen sein. Amen.«
    Dann verstummte sie. Mechthild hatte in ihrem Gebet ihren mystischen Aufstieg zu Gott beschrieben und damit allen verdeutlicht, dass ihr niemand mehr etwas anhaben konnte, weil ihre Seele sich schon nicht mehr auf Erden befand. Sie sprang vom Himmel der Liebe in den Himmel der Erkenntnis, vom Himmel der Erkenntnis in den Himmel des Genusses, vom Himmel des Genusses in den Himmel des Denkens, und im Denken schließlich vereinigte sich ihre arme, kleine Menschenseele mit Gott.
    Nun aber sah Maria etwas, was sie nie im Leben vergessen sollte. Die Schergen wirkten wie gelähmt und verharrten zunächst bloß. Doch dann stiegen die letzten sieben Frauen von den Karren und gingen zu den Käfigen, die sie mit Hilfe der Schergen betraten. Es herrschte absolute Stille. Als hätte Gott den Atem angehalten. Der Henker schloss möglichst geräuschlos und sanft die Türen, bat die Frauen um Verzeihung, die ihm gewährt wurde, hievte mit Hilfe seiner beiden Knechte

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