Das Geheimnis der Rosenkreuzerin
die Käfige über die Balustrade und ließ sie in die Wasser der Ill hinab. Als die Eisengehäuse eintauchten, hob ein Jammern und Klagen der Menge an, das die ganze Zeit andauerte, in der sie unter Wasser waren. Kaum standen die Käfige wieder auf der Brücke, hielt die Menge nichts mehr zurück. Sie stürmten die Brücke. Überzeugt davon, dass Mechthild eine Märtyrerin und eine Heilige war, wollte jeder eine Reliquie von ihr haben, die ihn oder seine Familie vor dem bösen Blick, vor Krankheit, vor Unglück, vor dem Satan und vor der ewigen Verdammnis schützte.
Nach einer Zeit, die Maria endlos vorkam, verlief sich die Menge wieder. Von Mechthild von Helfta war nichts mehr übrig, kein einziges Haar, kein Knochen, keine noch so kleine Faser ihrer Kleidung. Die Menschen hatten alles, ihren Körper und ihre Gewänder, zerfetzt und zerrissen, damit jeder einen Teil vom Leib und vom Tuch der Heiligen abbekam.
Maria starrte immer noch auf die Brücke. Christian suchte seinen Weg zu Gott – was ihm nicht gelingen konnte, solange er nicht verstand, was ihren Eltern wi derfahren war und vor allem warum. Aber zumindest war er unterwegs. Mechthild von Helfta dagegen hatte ihren Aufstieg zu Gott bereits absolviert und Erlösung gefunden. Und sie selbst? Was sollte, was konnte Maria unternehmen?
Zutiefst ratlos schlich sie zum Kloster der Dominikaner zurück. Dort erwartete sie schon Bruder Odo, der ihr zuraunte, dass ein Mönch im Kloster Nachtquartier bezogen hätte, der Kunde von Johannes und Christian brächte. Maria drängte es, sofort mit diesem Mönch zu reden.
Dieser hatte zu berichten, dass Bruder Johannes auf Zypern gestorben war.
»Und was ist mit Christian?«
»Er wollte nach Jerusalem.«
»Ja, ja, das weiß ich«, fiel sie ihm ungeduldig ins Wort. »Aber wo ist er jetzt? Weißt du etwas?«
»In Jerusalem, wo ich gerade herkomme, ist er nicht. Wohin es ihn verschlagen hat, weiß ich nicht.«
Ihr Bruder war demnach verschollen, vielleicht brauch te er Hilfe. Ihr Entschluss stand fest. Sie würde sich als Mönch Marius auf die Wallfahrt nach Jerusalem begeben, den Spuren ihres Bruders folgend. Alle Einwendungen des guten Odos, dass die Reise für einen Mann schon gefährlich genug, für eine Frau aber gewiss tödlich wäre, halfen nichts.
»Ich reise doch als Mann!«, entgegnete sie fest. Dann bat sie Odo, ihr alles zu erzählen, was er über Pilgerreisen wusste und ihr dienlich sein konnte …
Kapitel 7
S ollte sie vielleicht einen Psychologen aufsuchen? Sie verstand ihre Träume einfach nicht, weder die Welt, von der sie erzählten, noch fand sie eine Erklärung für die Gewalttätigkeit darin, die sie erschreckte. War sie schizophren? Zumal ihr die Traumbilder wie fremde und nicht wie eigene erschienen. Als würde sie ihr jemand ins Gehirn pflanzen. Aber wer sollte daran ein Interesse haben, und wie sollte das funktionieren? Sosehr sie sich auch den Kopf zerbrach, sie fand keine wissenschaftlich halbwegs plausible Erklärung.
Die seltsamen Traumbilder beunruhigten sie zwar, doch der rätselhafte Einbruch zeigte ihr, wie leicht es tatsächlich war, in ihr Leben einzudringen, wie verletzlich dieses Dasein doch war und wie jede Vorstellung von Sicherheit letztlich auf eine Illusion hinauslief.
Sie hatte das letzte Kind behandelt und die Sprechstundenhilfe verabschiedet. Jetzt genoss sie den Blick durch das große Fenster auf die blühenden Magnolien im Garten. Weiß, rosa und purpur explodierten die Blüten in hemmungsloser Farbigkeit. Der Oleander setzte mit seinen roten Blüten einen eigenen Akzent. Im Garten spielte ihr Sohn, der mit einem Kunststoffschwert imaginäre Feinde vom Grundstück vertrieb. Sollte sie wirklich einen Hund, eine Katze oder ein Kaninchen anschaffen, wie es sich ihr Sohn wünschte? Es widerstrebte ihr, für ein Tier verantwortlich zu sein. Andererseits hatte sie Bennis Wunsch immer mit dem Argument abgewiesen, ein Tier in der Wohnung zu halten, sei Quälerei. Das Haus und vor allem der Garten entkräfteten das Argument nun. Unter diesen Bedingungen stellte sich eigentlich nur noch die Frage nach dem pflegeleichtesten Tier. Ein Blick in das fröhliche Gesicht ihres Sohnes machte ihr ein schlechtes Gewissen. Schließlich ging es nicht um das Tier, das am einfachsten in der Haltung war, sondern um den besten Vierbeiner für Benni, der Spielkamerad und Freund für ihn werden könnte. Innerlich schüttelte sie den Kopf über die bequeme Pragmatik ihres Denkens. Sie nahm sich
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