Das Geheimnis der Rosenkreuzerin
vorsichtig Fuß um Fuß voran, um in kein Loch zu stürzen. Dann blieb sie stehen. Ihr war, als würde sie gerufen, kurz nur, dann war es wieder still. Sie be schloss zu meditieren und setzte sich hin. Der Boden war glitschig wie Schlamm und schmatzte, als ihr Gesäß ihn berührte.
Nach einiger Zeit hatte sie das Gefühl, als schwebte sie über ihrem Körper, als liefe sie wieder die Treppen hoch und ginge durch die geschlossene Falltür, deren Holz sie nicht hinderte. Sie entdeckte Hafis, der sie aber nicht sah und unter Yussufs Anleitung eine Leiche sezierte. Der Weise erklärte ihm anhand des Toten die menschliche Anatomie.
Sie verließ den geheimen Raum und das Haus und fragte sich, was die Leute wohl sagen würden, wenn sie Maria so nackt durch die Straßen von Fès wandeln sahen, doch dann merkte sie, dass die Passanten und Händler sie, wie zuvor schon Hafis, gar nicht wahrnahmen. Als ihr das bewusst wurde, war sie schon nicht mehr in der Stadt, sondern durchquerte die Wüste und stand plötzlich an jenem Ort, an dem Hafis und sie sich in der Meditation geliebt hatten. Jetzt tauchte Hafis vor ihr auf und nahm ihre Hand, küsste ihr Ohrläppchen, fuhr mit den Daumen sanft über ihre Augenlider, die sie unter dem Druck schloss, bereit, sich ihm hinzugeben, für ewig. Zum ersten Mal in ihrem Leben begegnete sie einem Glück, das zu dauern versprach, das unvergäng lich war. So wie er sich ihr, musste sie sich ihm nur hingeben und sich auf das große Vergessen einlassen, denn was war Glück schließlich anderes, als das Bewusstsein dafür zu verlieren, dass Leid, Unglück, Schmerzen, Tod und Verlust existierten? Hafis lächelte, schön, zu schön, ohne jeden Makel. Die Lachfalten fehlten und die schiefen Mundwinkel beim Schmunzeln, das Grübchen auf dem Kinn, der kleine, selbst in der größten Freude nie versiegende Schmerz in den Augen. Nein, vor ihr stand nicht Hafis, sondern nur ein Wesen, das die Gestalt des Geliebten angenommen hatte und versuchte, makelloser zu sein als derjenige, dem ihr Herz gehörte, dabei liebte sie doch gerade seine Makel. Vor ihr stand die große Auslöschung.
Sie stieß die Gestalt zurück, die sich daraufhin in Millionen Heuschrecken auflöste. Und schon stand sie im Innenhof von Mansurs Palast. Seine Leiche schwamm aufgedunsen im Goldfischteich. Seinem misshandelten Leib sah sie an, dass man ihn gefoltert hatte. Hatte er etwas verraten? Hasan-i-Sabah war ihnen also auf den Fersen. Hing jetzt nicht alles davon ab, Yussuf und Avram zu warnen? Vielleicht erreichten die Meuchelmörder in diesem Augenblick schon Fès? Aber ihr wurde klar, dass die Abwehr der Assassinen Yussufs und Avrams Aufgabe war, während ihre darin bestand, die Reise fortzusetzen.
Ihr Weg führte sie direkt und ohne Vorwarnung nach Straßburg. Als sie die Stadt betrat, trug sie auf einmal eine Rüstung und ein scharfes Schwert. Es war Winter. Schnee fiel auf ihr Metallgewand. Sie richtete ihre Schritte zum Haus ihrer Eltern. Die Luft roch abstoßend süßlich nach verbranntem Menschenfleisch. Wohin sie auch schaute, entdeckte sie Scheiterhaufen, auf denen Juden verbrannt wurden, die man aus den Häusern getrieben hatte. Mit klopfendem Herzen erblickte sie vor sich ihr Haus, in das gerade der Priester August von Virneburg in Begleitung von drei Spießgesellen, die Schwerter und Dolche in den Händen hielten, eindrang. Sie erinnerte sich, dass ihre Eltern, ihr Bruder und sie zur selben Zeit am Frühstückstisch saßen und ihr Vater eine Anekdote vom Rabbi Gamaliel erzählte. In ihr vergnügtes Lachen drangen die Mordgesellen mit blankgezogenen Klingen. Schnell zog Maria ihre Waffe und rannte auf das Haus zu. Noch war es nicht zu spät, noch konnte sie ihre Eltern retten und den Lauf der Geschichte ändern. Diese Möglichkeit, da sie ihr nun einmal geboten wurde, durfte sie nicht ungenutzt verstreichen lassen.
Ihr Vater griff nach der Holzzange für den Kamin, um auf die Eindringlinge loszugehen, während ihre Mutter die beiden Kinder an die Hand nahm. Da schaute sich Maria plötzlich in ihre eigenen Kinderaugen. Der Blick ging ihr durch Mark und Bein. Sie sah das kleine zehnjährige Mädchen, das sie einmal war, und erkannte die Angst in ihren Augen. Ihr Herz gefror, und sie verspürte jetzt wieder diese alte Angst. Und Hass drang in sie ein, brennender Hass auf die, die es wagten, Kinder in Angst und Schrecken zu versetzen. Die Furcht in den Augen der Kinder ließ gewaltigen Zorn in ihr anschwellen. Wie
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