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Das Geheimnis der Rosenkreuzerin

Das Geheimnis der Rosenkreuzerin

Titel: Das Geheimnis der Rosenkreuzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Klausen
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junge Frau und keine der ohnehin nur wenigen Heldinnen, die in den Liedern der Skalden, Minnesänger und Troubadoure vorkamen, Heldinnen wie Brunhilde oder Kriemhilde, wie Isolde oder Ginevra. Aber es mochte sein, wie es wollte. Sie hatte sich den Weg nicht ausgesucht, er hatte sich ihr aufgedrängt. Hatte sie nicht immer nur auf das reagiert, was ihr das Schicksal an Zumutungen wie Stolpersteine zwischen die Beine warf? Bei Lichte besehen war das, was man nun von ihr erwartete, nur logisch. Nur wenn sie freiwillig in das Reich des Todes hinabstieg, um als neuer Mensch geboren zu werden, vermochte sie, die nächste Stufe der sieben Menschen, den sechsten Menschen, zu erreichen – einzig indem sie starb und wieder zum Leben, zu einem neuen Leben erwachte. Auch wenn der Verstand das einsah, zögerte das Herz, dieses kleine dumme Menschenherz, das eher Schwierigkeiten schuf, als sie zu überwinden half. Sie gab sich einen Ruck und setzte ihren linken Fuß auf die Stiege, die in die Dunkelheit hinabführte.
    »Warte«, mahnte Avram, »wir dürfen dir zwar nicht sagen, was dich dort unten erwartet, aber ein paar Hinweise zu geben, ist uns erlaubt. Also höre gut zu. Einen ganzen Monat, dreißig Tage, siebenhundertundzwanzig Stunden, dreiundvierzigtausendzweihundert bange Minuten wirst du dort unten zubringen müssen. Auf dich allein gestellt, dich selbst zum schlimmsten Gegner habend. Die Angst wird dein einziger Begleiter sein. Manchmal wird der Schlaf dir ein wenig Ruhe und Vergessen gönnen, immer aber wird der Zweifel an dir nagen, den du zu überwinden hast. Deine Sachen darfst du nicht mitnehmen, auch das halbe Kreuz nicht, das du um den Hals trägst. Nackt, so wie du geboren wurdest, wirst du den tiefsten Ort auf Erden aufsuchen. Du steigst in das Reich der Toten hinab, begibst dich freiwillig in die Hölle, aber du trägst auch etwas Unzerstörbares in dir, nämlich die Liebe. Das darfst du niemals vergessen. Du bist erst verloren, wenn dir die Liebe abhanden kommt. Solange du sie in dir fühlst, kann dir nichts widerfahren. Aber sollte der Hass in dir die Oberhand gewinnen, dann bist du des Teufels, dann wird dir niemand mehr helfen können – auch wir nicht. Dann hast du deine und unsere Chance verwirkt. Mit unserer Liebe und unseren geistigen Kräften stehen wir dir bei, so gut wir können, aber zählen kannst du nur auf dich. Und noch eins. Vergiss es nie: Der Teufel ist eine Maske ohne Gesicht.«
    »Was heißt das?«, fragte sie erschrocken. »Was ist eine Maske ohne Gesicht?«
    »Du wirst es erfahren«, beschied sie Avram. »Trau nicht den Erscheinungen.«
    Dann verstummten die Weisen, und Hafis machte ein unglückliches Gesicht. Seine Stimme klang verzweifelt, als er sang:
    »Dem smaragdenen Himmelstor
    sind die Lettern eingeschrieben:
    Außer jenen Taten, die die Güte übte,
    wird nichts dauern!
    Lass nicht ab von deinem Anspruch
    auf die Liebe deiner Freunde.
    Denn Gewalt und Willkür
    wird nicht dauern«.
    Als er geendet hatte, stürzte er ungelenk auf sie zu und umarmte sie so heftig, dass sie ihre Glieder knacken hörte. Als wollte er sie in seinen Körper pressen, um sie mit seinem Fleisch vor der Welt zu schützen. Sie würden erst ihn zerreißen müssen, bevor sie Marias habhaft werden könnten.
    Verlegen machte sie sich von ihm frei. So unbeholfen und ohne Eleganz wie heute hatte sie den Perser noch nie erlebt, und das rührte sie. Dann legte sie ihre Gewänder ab, warf einen unsicheren Blick auf die drei Männer, deren Hoffnung sie trug, und stieg hinab in die Finsternis.
    Der letzte Lichtstrahl erstarb, als jemand über ihr die Falltür schloss. Noch lange war sie nicht am Ende der Treppe angekommen, sie würde nun im Dunklen weiter gehen und dabei Obacht geben müssen, nicht zu straucheln und zu stürzen. Bedächtig setzte sie deshalb Stufe für Stufe Schritt für Schritt. Je tiefer sie kam, desto modriger roch es. Kühler wurde es nicht, im Gegenteil, feuchte Wärme umfing sie. Es kam ihr vor, als verschwän de sie in einem riesigen Schlund, denn was sie als Luftzug verspürte, empfand sie als den fauligen Atem eines gewaltigen unterirdischen Geschöpfes. Die Luft wirkte verbraucht, mehr noch: verlebt.
    Sie verlor jegliches Gespür, wie lange sie weiter hinabstieg. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Doch irgendwann ging es nicht mehr tiefer, und sie langte auf einem erdigen Grund an. Es blieb stockfinster. Tastend streckte sie ihre Hände aus, um nicht gegen etwas zu laufen, und schob sich

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