Das Geheimnis der Rosenkreuzerin
konnten sie es wagen? Diese Ungeheuer gehörten gevierteilt, dachte sie grimmig. Sie brauchte nur zuzustoßen, um den Lauf der Welt zu ändern, und dankte Gott, dass er ihr die Möglichkeit bot, die Geschichte zu korrigieren.
Fest umfasste sie den Griff des Schwertes, das sich fremd in ihrer Hand anfühlte. Sie blickte auf die Waffe und erkannte, dass es nicht ihr Schwert war, nicht Azrael, das sie erhob, um August von Virneburg zu töten. Ihre Mutter floh derweil mit den Kindern aus der Tür und wurde von der Spitze des Dolches einer der drei Spitzbuben getroffen. Zu lange hatte sie gezögert, die Mutter konnte sie nicht mehr retten. Aber den Vater. Maria wollte dem Priester schon das Schwert in den Wanst treiben, da sah sie, wie einer der Spitzbuben ihren Vater von hinten packte, der andere ihm den Holzhaken aus den Händen schlug und sich der rechtgläubige August von Virneburg mit sadistischem Grinsen den Dolch des Spitzbuben geben ließ. Mit gezücktem Dolch ging er auf ihren Vater zu und setzte ihm die Spitze auf die Brust.
»So! Du Christusmörder wolltest uns also angreifen? Dann wirst du jetzt zur Hölle fahren!«
War es nicht vollkommen gleichgültig, welches oder wessen Schwert sie in der Hand hielt? Wichtig war doch nur, dass es scharf und solide war. Sie wollte es auf den Kopf des Priesters niedersausen lassen, da streifte sie der Blick ihres Vaters, der sie erstaunte. Angst entdeckte sie nicht darin, auch keine Verachtung, weder Hass noch den Wunsch nach Vergeltung, sondern nur Segen, denselben Segen, den Moses dem Volk Israel einst erteilt hatte, nun segnete der Rabbiner seine Kinder, das Letzte, was er noch für sie tun konnte. Und in diesem Augenblick be griff sie, was sie all die Jahre auch in den gefährlichsten Situationen beschützt hatte, nämlich sein Segensspruch. Wie ein Mantel aus Stahl hatte er sie umgeben, wie ein Engel mit feurigem Schwert in der Hand war er über ihr gekreist:
Der Herr segne euch und behüte euch;
der Herr lasse sein Angesicht leuchten über euch und
sei euch gnädig;
der Herr hebe sein Angesicht über euch und
gebe euch Frieden .
Die Zeit der Rache war noch nicht gekommen. Es kostete sie die größte Überwindung, die sie jemals in ihrem Leben aufgebracht hatte, die größte Selbstverleugnung, das Schwert ungenutzt zu senken und zuzulassen, dass August von Virneburg in wilder Lust den Dolch immer wieder in den Leib ihres Vaters stieß. Sie sah die geliebten Augen brechen, da brach auch sie zusammen. Und fühlte nichts mehr, hörte nichts mehr, sah nichts mehr. Dunkelheit umgab sie, und Finsternis war in ihr. Jetzt sank sie bis auf den Grund und erreichte den Tod der Tode.
Lange verharrte sie, in diesem Zustand. Sie fand aus der Finsternis nicht mehr heraus. Bleiern lag das Nichts auf ihr. Jenseits von Gott oder Teufel kauerte sie und wimmerte in unmenschlichen Lauten. Da drang plötzlich eine Stimme an ihr Ohr, fein, kaum hörbar, wie ein Wispern. Sie konzentrierte sich und lauschte so angestrengt, dass es ihr wehtat. Es war seine Stimme, so viel nahm sie wahr, aber nicht, was er sagte. Doch sie sehnte sich so sehr nach den Worten des Geliebten, dass sie ihre Glieder anspannte. Es schmerzte, als seien ihre Arme und Beine mit glühenden Ringen umschlossen. Jede Bewegung würde sie verbrennen. Aber die Sehnsucht war größer. Sie richtete sich auf und schleppte sich in die Richtung, aus der sie die Worte zu vernehmen meinte. Und mit jedem Schritt, den sie tat, verstand sie Wort für Wort mehr:
Lass nicht ab von deinem Anspruch
auf die Liebe deiner Freunde.
Sie fühlte die Stiege, die sie betrat, denn sie wollte alles hören:
Denn Gewalt und Willkür
wird nicht dauern
Als das letzte Wort verklungen war, hörte sie einen ohrenbetäubenden Lärm, und im gleichen Augenblick flutete eine Helligkeit den Schacht, die sie blendete und tausend kleine Lichtpunkte, deren jeder für sich heller als die Sonne war, tanzten vor ihrer Iris im wilden Funkenflug. Ihr wurde übel, und sie spürte, dass sie das Bewusstsein verlor und stürzte, als zwei starke Arme nach ihr griffen. Hafis.
Kapitel 33
S päter behauptete sie, in jenem Moment, als Hafis die Falltür öffnete und das Licht einfiel, Gott gesehen zu haben. Der Perser vermochte zwar die Blendung nach dem längeren Aufenthalt in der Dunkelheit medizinisch zu erklären, doch er wagte nicht, auf dieser wissenschaft lichen Erklärung zu bestehen, denn dass das Licht seit Mose s ’ Tagen als Attribut Gottes galt, wusste
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