Das Geheimnis der Rosenlinie - Esch, W: Geheimnis der Rosenlinie
zu.
»Verzeiht, ehrwürdiger Prior, erlaubt mir, dass ich mich wieder zurückziehe. Ich habe eine anstrengende Reise hinter mir und ich bedarf noch des Schlafes. Ich weiß, dass sich das normalerweise nicht geziemet, aber dennoch bitte ich Euch inständig darum.« Pater Lambert lächelte Maurus freundlich zu.
»Geht, Bruder, Ihr seid in Gnaden entlassen. Aber ich erwarte Euch zur Prim zurück, damit Ihr am Hochamt teilnehmt.«
Maurus verabschiedete sich mit einer leichten Verbeugung und ging zurück in seine Schlafkammer. Dort holte er das Wertvollste heraus, das er besaß, seine Taschenuhr, die er einst als Dankesgabe von einem flämischen Adeligen erhalten hatte, für den Latein- und Griechischunterricht für dessen Kinder. Maurus warf einen Blick auf den Zeitmesser und stellte fest, dass es kurz vor vier Uhr morgens war. Also hatte er bis zum Prim noch zwei Stunden Zeit. »So wenig Schlaf«, murmelte er vor sich hin. »Daran muss ich mich erst wieder gewöhnen.«
Ohne sich seiner Kleidung zu entledigen, legte er sich auf die harte Pritsche und schlief sofort wieder ein. Das Läuten der Kirchenglocke weckte ihn rechtzeitig zur Prim.
Nach der ersten Mahlzeit für den Tag, es gab einen schmackhaften Getreidebrei und kräftiges Schwarzbrot, begab sich Maurus in die Bibliothek, um dort den alten Frater Jean zu treffen, der ihm bei seiner Suche nach dem Vermächtnis der Sophie von Limburg behilflich sein sollte. Mit mürrischem Gesichtsausdruck legte der Alte Maurus die Findbücher des Klosters vor. Die eisgrauen Augen des Mönches schienen den jungen Jesuiten durchdringen zu wollen, während dieser die Findbücher Zeile für Zeile nach Informationen durchforstete. Maurus notierte sich die Zahlen, die für Regale, Fächer und den genauen Standort der jeweiligen Schriftstücke standen. Dann reichte er den Zettel Bruder Jean, der die ganze Zeit ruhig dagestanden hatte.
»Bruder, darf ich Euch um die Mühe bitten, diese Schriftstücke herbeizuholen«, bat Maurus betont freundlich. Der Blick des Alten wurde deutlich grimmig. Dennoch nahm er den Zettel entgegen und verschwand wortlos zwischen den Regalen der Bibliothek. Maurus spürte den unheimlichen Blick des Alten noch immer, spürte, wie dieser Blick ihn nervös und unsicher machte.
»Das ist alles«, sagte der Alte, nachdem er einige Aktenbündel auf den Tisch geworfen hatte. Maurus war verwundert, die Konvolute mochten jahrelang nicht mehr angefasst worden sein, denn sie waren alle von einer dicken Staubschicht bedeckt. Nur die frischen Fingerabdrücke Frater Jeans waren jetzt zu erkennen. Maurus verglich die Akten mit seinen Notizen und sah schließlich erstaunt zu Frater Jean auf.
»Da fehlt aber ein Dokument«, stellte er tonlos fest.
»Das ist nicht da!«, gab der Alte kurz zurück.
»Und wo ist dies zu finden?«
»Es ist nicht da!«, wiederholte Frater Jean lakonisch seine Antwort. Nun lehnte Maurus sich zurück und musterte den Alten.
»Bruder Jean, ist es Euch nicht Recht, dass ich hier meinem Auftrag nachgehe?«
Die Augen des Alten zuckten unmerklich. Doch Maurus hatte den Eindruck, als habe seine Feststellung wie ein Nadelstich gewirkt.
»Es gibt Dinge, junger Jesuit, die man besser ruhen lassen sollte«, erwiderte der alte Bibliothekar endlich nach einer langen bedächtigen Pause. Unentwegt starrte der Alte auf Maurus, musterte und fixierte ihn, dass Maurus nun der Geduldsfaden riss. Er ging auf den Alten zu und hielt dessen Blick stand.
»Was wird hier gespielt, Bruder Jean? Mich überkommt das untrügliche Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt.«
Der Alte starrte unbeirrt zurück. Wieder entstand eine quälend lange Pause. Dann hob er im leiernden Singsang der Mönche an:
»Was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr? Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!«, zitierte Fra Jean das Evangelium nach Lukas.
»Was wollt Ihr mir damit sagen, Bruder?«
»Habt Ihr nicht auch etwas zu verbergen?«, antwortete der Mönch mit einer Gegenfrage.
»Ich wüsste nicht, was Ihr meint.«
Der Blick des Alten drückte pure Verachtung aus.
»Nicht genug, dass wir einen unter uns haben, der es nicht wert ist, ein Zisterzienser zu sein, der sich schamlos der
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