Das Geheimnis der Rosenlinie - Esch, W: Geheimnis der Rosenlinie
Zuhause nicht mehr zu verheimlichen war, jagte er mich vor den Toren Brüssels davon. Ich irrte herum, ohne Geld, ohne etwas zu Essen, ohne ein Dach über dem Kopf, hochschwanger. Ein Totengräber, der gerade eine Kloake reinigte, half mir, als ich vor Schwäche zusammenbrach und dem Tode näher denn dem Leben war. Er brachte mich zu einem Frauenhaus. Die Dirnen dort waren alles andere als begeistert, eine Schwangere aufzunehmen. Doch der Totengräber war ein Freund des Inhabers dieses Bordells. Gegen das Versprechen, meine Schulden abzuarbeiten, nahm man mich dann in diesem Haus auf. Nach der Entbindung brachte ich Marinus in ein Findelhaus und erzählte eine Geschichte von einer Freundin, die bei der Geburt verstorben sei und mich gebeten hatte, für das Kind zu sorgen. Ich versprach den Nonnen, einmal im Monat einen kleinen Geldbetrag zu spenden, damit es Marinus gut ginge.
Meine Jugend animierte viele Freier und bald schon waren es mehr die Reichen denn die einfachen Soldaten und Tagelöhner, denen ich zu Diensten war. So konnte ich schnell meine Schulden bezahlen und das Frauenhaus verlassen. Das Geld reichte sogar dafür, mir diese Hütte hier zu kaufen und einen Wagen, in dem ich dann mein Gewerbe fortführte. Jetzt wisst Ihr beinahe alles von mir, Maurus van Leuven.«
Enja ergriff jetzt Maurus’ Hand und küsste sanft mit ihren weichen Lippen den Handrücken. Maurus war für einen Augenblick verwirrt, benebelt von der Sanftheit des Kusses, fasziniert von ihrem Wagemut und erstaunt über die Gefühle, die sich plötzlich in ihm regten. Es wurde ihm heiß und kalt zugleich. Doch es war ihm nicht unangenehm. Er kostete jeden Bruchteil dieses winzigen Augenblicks aus und genoss die Zuneigung dieser jungen Frau, auch wenn sie ihre Liebe anderen verkaufte. Nur zögerlich zog er dann doch seine Hand zurück und lächelte Enja zu.
»Das ist wahrhaft eine traurige Geschichte, die Ihr da erleben musstet. Aber warum habt Ihr denn Marinus nie gesagt, dass Ihr seine wirkliche Mutter seid?«
Enja seufzte und lehnte sich zurück.
»Es war schon schwer genug für ihn, dass er sein Leben bei einer Hure fristen musste. So war ich nur eine Freundin seiner Mutter für ihn. Stellt Euch einmal vor, man hätte erfahren, dass seine Mutter ihren Lebensunterhalt mit Prostitution verdiente. Er hätte sich wahrscheinlich für mich geschämt und wäre davongelaufen. So blieb ich irgendwo eine Fremde für ihn, wenn auch eine gute Freundin.«
Enja stockte plötzlich und sie sah Maurus fragend an.
»Aber warum erzähle ich Euch das alles?«
Maurus zuckte mit den Schultern.
»Es ist das erste Mal, dass ich es einem Mann erzähle. Seltsam. Bisher hatte ich noch nie das Bedürfnis, darüber zu sprechen. Doch in Eurer Gegenwart ist es anders.«
»Vielleicht, weil ich ein Mann der Kirche bin, dass Ihr mich als Euren Beichtvater betrachtet?«
»Gewiss nicht. Mit der Kirche habe ich schon lange nichts mehr am Hut. Wenn es einen Gott gäbe, dann hätte er meine Tante gewiss gerettet. Sie war keine böse Frau, hat nie einem Menschen Schaden zugefügt.«
Maurus legte die Stirn in Falten und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
»Aber warum gabt Ihr dann Marinus in die Obhut der Zisterzienser?«
»Weil es für den Knaben die einzige Chance war, einmal etwas mehr aus seinem Leben zu machen. Und wer weiß, wenn es doch einen Gott gibt, wird er sich vielleicht des unschuldigen Kindes annehmen. Doch wenn ich es recht betrachte und darüber nachdenke, wie es ihm ergangen ist, bereue ich es schon, Gott um Hilfe gebeten zu haben. Warum? Warum hat Gott zugelassen, dass man meinen Sohn derart misshandelte?«
Mit einem Male standen Enja Tränen in den Augen und sie weinte bitterlich. Maurus fehlten die Worte, um sie zu trösten. Darum stand er auf, ging um den Tisch herum und schloss die weinende Frau in seine Arme. Er stand da und wusste plötzlich nicht mehr, was stärker war in ihm, der Wunsch, dieses zarte Wesen zu trösten oder das brennende Verlangen, ihren Körper mit den sanften Rundungen zu halten und an sich zu drücken.
Die junge Frau spürte, wie die Begierde in ihm wuchs, und wusste doch um seinen Sanftmut, denn er machte keine Anstalten, seinem Verlangen freien Lauf zu lassen und sie einfach hier und jetzt zu nehmen. Sie löste sich sanft aus seiner Umklammerung und küsste Maurus auf den Mund. Maurus schloss die Augen, war wie betäubt von der Sanftheit ihrer weichen Lippen und der schweren Süße dieses Kusses. Ein
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