Das Geheimnis der Salzschwestern
griff nach ihrer Teetasse. »Ich denke, dann bleibe ich auch.«
Und so waren sie mit einem Mal zu dritt.
K APITEL 16
E s gab im ganzen Universum keinen Ratgeber, der Claire in ihrer Situation hätte weiterhelfen können, ihr hätte sagen können, wie sie sich verhalten sollte, jetzt, wo sie in ihrem Elternhaus aufwachte, aus dem sie doch vor Jahren geflohen war. Unter genau dem gleichen Dach wie ihre Schwester, von der sie sich losgesagt hatte, und der schwangeren Teenager-Geliebten ihres Mannes. Wenn es so ein Buch gäbe, dachte Claire, dann wäre der wichtigste Ratschlag darin wohl dieser: Tu’s nicht. Wach nicht auf. Bring dich nicht in diese Situation. Kehr am besten gar nicht erst an diesen Ort zurück.
An ihrem ersten Tag zu Hause war es vor allem um Organisatorisches gegangen – wo würde Dee schlafen, welche von Claires alten Klamotten passten ihr noch, was sollten sie mit Icicle tun –, und ihre erste Nacht war die reinste Qual gewesen, voll von Albträumen, für die sie die klumpige Matratze verantwortlich machte. Sie rollte sich in ihrem Kinderbett auf die Seite, die Beine in die verschlissenen Laken gewickelt, und dachte daran, genau wie die Häftlinge in Filmen Striche an die Wand zu malen. Aber die Gefangenen taten das ja nur, weil sie eines Tages wieder freikommen würden, während Claire wusste, dass sie jetzt nirgendwo mehr hinkonnte.
Sie setzte sich auf und gähnte. Es war immer noch früh, so gegen sechs, würde sie anhand der Farbe des Himmels schätzen, aber sie erinnerte sich nur allzu gut an diese bläuliche Stunde auf der Salt Creek Farm. Sie hätte es zwar nie zugegeben, aber das war auch der Moment, an dem sie gelegentlich betete, und das tat sie nun, sie schob die Beine über die schmale Bettkante, sank auf die Knie und bat um Rückgrat, um die Stunden durchzustehen, die vor ihr lagen.
Vater unser im Himmel, begann sie in Gedanken, schweifte aber schnell ab. Sie gab es auf und starrte aus dem Fenster hinüber zu den vielen Morgen trostlosen Lands, die vor ihr lagen, überall nur Matsch und Schlamm. Jo hatte die Bassins für die Frühlingsflutung ausgekratzt, und ihr Anblick ließ Claire völlig kalt. Ehrlich gesagt konnte sie sich kaum noch vorstellen, dass die ihr einst so großen Kummer bereitet hatten. Während der letzten zehn Jahre hatte sie dem Salz die Schuld für alles Schlechte in ihrem Leben gegeben: für ihre Fehlgeburten, die immer größeren Probleme mit Whit, ihre Geldschwierigkeiten. Aber als sie jetzt den Blick über die Marsch wandern ließ, wurde ihr klar, wie falsch sie damit von Anfang an gelegen hatte.
Claire erhob sich und wühlte in ihrem Schrank herum, bis sie ein paar alte Kleider gefunden hatte: eine ausgeblichene Jeans, die vom vielen Tragen ganz dünn war, und ein fahles Leinenhemd. Wie seltsam, dass ihre alten Sachen, ihre frühere Haut, hier die ganze Zeit darauf gewartet hatten, dass sie wieder in sie hineinschlüpfte, aber andererseits kam auf der Salt Creek Farm ja auch nie etwas weg. Davon legte doch das ganze Gerümpel deutlich Zeugnis ab. Claire drehte sich die Haare zu einem Knoten und steckte ihn fest, dann sah sie sich lange im Spiegel an. Sie war erst einunddreißig, aber im Laufe des letzten Jahres hatten sich an ihren Schläfen und auch mitten auf ihrem Schopf dreiste graue Strähnen eingeschlichen. Allerdings störte sie das kaum. Wie sollte es anders sein, dachte sie, in ihrem Leben an Whits Seite war doch auch alles andere verblasst und gedämpft worden.
Claire setzte eine finstere Miene auf und zog die Gardinen mit einem Ruck zu. Wie viel Zeit würde sie wohl hier oben allein haben? Eine Stunde? Einen ganzen Tag? Bald würde Jo an die Tür klopfen, und Claire würde nichts anderes übrigbleiben, als ein paar Stiefel überzustreifen, nach einer Hacke zu greifen und wieder draußen in der Saline zu arbeiten, so, als ob sie nie fort gewesen wäre. Auf der Salt Creek Farm gab es schon seit Urzeiten eine Regel, die für alle Frauen hier galt: Wenn du auf diesem Land lebst, musst du es auch bearbeiten, egal ob stark oder schwach, gesund oder krank, ob es dir nun passt oder nicht. Jetzt musste man die Rinnen ausheben, und diese Zeit des Jahres mochte Claire am wenigsten. Was auch immer sie im Frühling hier tat – Schleusen reparieren, Matsch aus dem flachen Sammelbecken kratzen –, am Ende des Tages schmerzte jeder Muskel, sie hatte immer Dreck unter den abgerissenen Nägeln und blutige Blasen. Jo hingegen hatte nicht einmal einen
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