Das Geheimnis der Salzschwestern
nichts mehr Platz außer ihrer Lust. Sie griff nach hinten und flocht ihr Haar zu einem Zopf, zog so fest wie möglich, bis jede einzelne Strähne an ihrem Platz war. Sie würde wieder auf die Beine kommen, dachte sie. Das musste doch möglich sein. Sicher konnte man Entscheidungen treffen und sie dann wieder rückgängig machen, Wahrheiten auslöschen wie das Gesicht der Jungfrau.
Immerhin ist er Priester , sagte sie sich, als sie zu Icicle zurückkehrte. Er hat schließlich gelobt, die Geheimnisse der Menschen für sich zu behalten. Und trotzdem war ihre Seele noch immer rastlos. Sie schloss die Augen, sah vor sich aber nur die gräulichen Salzhäuflein, die am Ende eines langen, heißen Sommers den Rand der Marsch säumten. Was würde das Salz wohl erzählen, wenn es sprechen könnte, dachte Claire. Und war das überhaupt wichtig?
In der Entfernung war ein Motor zu hören, und sie spannte jeden Muskel an. Hinter den Dünen entdeckte sie einen leuchtenden Fleck – das rote Auto, das sie selbst immer gefahren hatte, und es hielt auf die Salt Creek Farm zu. Ohne zu zögern erklomm sie Icicle, der schnaubte und nervös zur Seite tänzelte.
»Claire!« Sie hörte noch, dass Ethan ihren Namen rief, es war eine Frage, die vom Wind davongetragen wurde, aber sie hatte jetzt keine Zeit für Erklärungen. Zum zweiten Mal seit Ethans Heimkehr wandte Claire ihm den Rücken zu und floh. In diesem Moment gab es für sie nur eins, sie musste unbedingt vor Whit an der Salt Creek Farm ankommen.
K APITEL 17
A n Dees erstem Morgen auf dem Salzgut dämmerte ihr langsam, dass es ihr auf der Straße, auf die ihr Vater sie zu setzen gedroht hatte, womöglich besser ergangen wäre. Dort hätte sie wenigstens ausschlafen können.
»Aufstehen!« Sie war bereits wach, aber Jo marschierte trotzdem in ihr Zimmer und zog die Laken zurück. Wach war ihr offensichtlich nicht genug. Man musste auch auf den Beinen und beschäftigt sein. Dee stöhnte und beugte die Knie.
»Wadenkrämpfe?«, fragte Jo und verschränkte die Arme vor der breiten Brust. »Ich hab gehört, dass schwangere Frauen die manchmal haben. Du solltest mehr Salz essen.«
Dee verzog das Gesicht und setzte sich auf. Mehr Salz? Sollte das ein Witz sein? Hatte Jo sich in letzter Zeit mal umgesehen? Dee kicherte. »Das dürfte hier ja wohl kein Problem sein«, murmelte sie mit typischem Teenager-Sarkasmus. »Da muss ich ja nur rausgehen und über den Boden lecken.«
Für einen Krüppel, dachte Dee, bewegte sich Jo ziemlich behände. In einem Moment stand sie noch drohend wie ein Wärter in einem Gefängnisfilm an ihrem Bett, im nächsten kam sie Dee bereits viel zu nahe und blies ihr den Geruch von Speck und Kaffee ins Gesicht. »Wenn du im Leben die Augen aufgehalten hättest, wärst du jetzt vielleicht nicht in dieser Lage, Mädchen! Lektion Nummer eins: Salz ist nicht einfach nur Salz. Ich verdiene damit meinen Lebensunterhalt und nehme es deshalb äußerst ernst. Und wenn du mit mir klarkommen willst, dann tust du das besser auch.« Sie warf Dee ein schlichtes Hemd zu. »Steh auf und zieh dich an, wir treffen uns in fünf Minuten unten. Und nur damit du es weißt, ich hab da auch eine Uhr, und die werd ich im Auge behalten.«
Sie ließ die Tür offen, als sie ging. Stampf, stampf stampf. Wenn ihre Schritte gleichmäßiger wären, dachte Dee, während sie sich das Hemd über den Kopf zog, dann würde sich Jo bald selbst in eine verdammte Uhr verwandeln.
Als Dee eine Minute vor Ablauf der fünf Minuten die Küche betrat, entdeckte sie auf dem Tisch mehrere Schüsseln mit Salz. Die erste Schale war angeschlagen, hatte einen Rand aus aufgemalten Kleeblättern und enthielt das altbekannte graue Salz. Die schweren Körner klumpten zusammen und sahen beinahe feucht aus. Das zweite Schälchen war aus poliertem Holz und enthielt alarmierend blutrotes Salz. Das stammte bestimmt aus diesem seltsamen Becken in der Marsch, dachte Dee. Dann gab es eine Rührschüssel aus Plastik mit normalem Tafelsalz, und in der Mitte entdeckte Dee eine Kristallschale mit Salz in der Form von so üppigen Flocken, dass sie Dee an die Kokosraspeln auf einer Hochzeitstorte erinnerten. Bei dem Anblick leckte sie sich die Lippen. Sie hatte wirklich Hunger.
Jo wies auf den Tisch. »Welches Salz spricht dich an? Bei welchem läuft dir das Wasser im Mund zusammen?«
»Ich weiß auch nicht. Wo ist denn der Unterschied?« Dee schaute zur Seite, Jo trat jedoch einen Schritt nach rechts, zurück in ihr
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