Das Geheimnis der Salzschwestern
wieder in den Lehm. »Tut mir leid.«
Nein, mir tut es so leid, hätte Jo gern gesagt, aber das tat sie nicht. Sie verfiel mit ihrer Hacke wieder in ihren alten Arbeitsrhythmus, und Claire tat es ihr gleich. Eine Weile arbeiteten sie schweigend, dann fragte Jo: »Ist es jemand Bestimmtes?«
»Hm?«, schreckte Claire auf und nahm eine Blase unter die Lupe, die sich an ihrem Daumen bildete. Aber Jo wusste schon, warum ihre Zunge plötzlich so stumm war wie ein defekter Glockenschwengel. Je mehr man sich nach etwas Verbotenem sehnte, desto weniger wollte man darüber sprechen.
»Der Mann, an den du gerade denkst. Trägt er vielleicht Schwarz und steht sonntags am Altar?«
Claires Wangen liefen rot an, und sie atmete keuchend ein. Sie machte den Mund auf, um sich zu rechtfertigen, Jo wusste aber nur zu gut, dass Claire sich ihre Gefühle für Pater Ethan Stone ja kaum selbst erklären konnte, geschweige denn sie jemand anderem gegenüber erläutern. Früher einmal war es Jo mit Whit genauso ergangen, der ebenfalls tabu für sie war, wenn auch aus anderen Gründen.
»Eure Rede sei allzeit mit Salz gewürzt«, hieß es in der Bibel, und damit war gemeint, dass man sich gewandt ausdrücken sollte. Bevor Claire zur Salt Creek Farm zurückgekehrt war, hätte Jo es als Anweisung aufgefasst, den Leuten zu erzählen, was sie hören wollten. Jetzt, wo Claire wieder zu Hause war, kam ihre Schwester zu einem anderen Schluss. Gottes Wort erreichte die Herzen der Menschen nicht im senkrechten Fall, sondern umfing sie eher wie ein dünnes Netz, das mitnahm, was auch immer es bekommen konnte.
»Gehst du morgen in die Kirche?«, fragte sie. »Da kannst du Ethan ja sehen.«
Claire schüttelte den Kopf und nieste. Sie war immer noch allergisch gegen den Blütenstaub. »Ich würde lieber hierbleiben und kochen.«
Jo wusste, dass Claires großes Sonntagsmahl ein Friedensangebot an sie und Dee darstellte: Schinken, überbackene Kartoffeln, und die ersten Batisranken der Saison, die sie vor ein paar Tagen eingelegt hatten. Jo mochte es, wenn davon ein paar Gläser in der Küche standen, sie betrachtete gern die zarten Sprösslinge, die darin schwammen wie Erinnerungen. Nun sah sie ihre Schwester stirnrunzelnd an. Manches aus der Vergangenheit hielt man doch besser unter Verschluss.
Jo ließ ihre Schaufel sinken. Ihre Seite des Verdunstungsbeckens war so sauber ausgekratzt wie irgend möglich. Die Schleusen hatte sie bereits früh am Morgen ausgebessert, denn sie hatte das Gefühl, dass es langsam an der Zeit war, die Marsch wieder zu fluten. Diese Entscheidung nahm sie nicht auf die leichte Schulter, aber der heutige Tag erschien ihr passend, auch wenn erst Anfang April war. Sie würde die Schleusentore öffnen und sehen, was das Wasser mit sich brachte. Jo nickte vor sich hin. »Ich denke, die Becken können jetzt geflutet werden.«
Claire sah auf. Sie hatte nie verstanden, wie Jo und ihre Mutter den passenden Zeitpunkt bestimmten, die Marsch voller Wasser laufen zu lassen und mit der Salzproduktion für dieses Jahr zu beginnen. »Jetzt schon? So früh?«
Jo zuckte mit den Achseln. »Warum nicht?«
»Woher weißt du das bloß?«
»Dafür gibt es keinen Trick, Claire, das ist einfach nur Übung.« Man musste die immer gleichen Handgriffe ein ums andere Mal wiederholen, und man brauchte Geduld, um den Wandel der Jahreszeiten zu beobachten und dementsprechend zu handeln, auch wenn es einem nicht immer passte. Jo sah zu ihrer Schwester hinüber. Ihr Haar war so rot wie Henrys Salz, aber Claire hatte da nie eine Verbindung gesehen. Irgendwann würde es auch bei ihr klick machen, dachte Jo, und dann würde sie begreifen, dass sie längst über genug Wissen verfügte, um das Wetter hier einschätzen zu können.
Außerdem gab es da nämlich doch einen Trick, durch den sie wusste, wann sie die Saison einläuten konnte. Vor der Flut befragte Jo einfach Henrys Salz. Der passende Moment war gekommen, wenn die Kristalle im Schlamm gerade eben rosafarben zu leuchten begannen. Davor war der Wind noch zu kalt und später war der Boden viel zu durstig. Wenn Jo abwarten würde, bis das Salz wirklich rot war, würden die Lehm- und Schlickwände der Becken und Gräben zu bröckeln beginnen, und es bestand das Risiko, dass sie komplett in sich zusammenfielen. In diesem Moment würde das Meerwasser alles nur in eine riesige Schlammpfütze verwandeln. Heute hingegen war das Rosa genau richtig – der zarte Farbton einer Rose, die bald erblühen
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