Das Geheimnis der Salzschwestern
würde. Jo lief am Hauptgraben entlang und machte dabei wie üblich einen großen Bogen um das Wehr, auch wenn sie jetzt erwachsen war und ihr Zwillingsbruder schon lange unter der Erde ruhte. Sie stellte fest, dass sie den perfekten Zeitpunkt abgewartet hatte. Die Flut hatte ihren Höchststand erreicht, und die Wellen klatschten an den Strand. An der Hauptrinne drehte sie am Rad der Schleuse, hob das Tor und trat einen Schritt beiseite, als dann das kalte Seewasser an ihren Stiefeln vorbeischwappte.
In diesem Moment galt es, die Zeichen zu deuten, die ihr über diese Salzsaison Aufschluss geben würden. Es gab immer mehr als einen Hinweis, und es war jedes Jahr etwas anderes. Jo dachte an die weißen Motten, die sie im Frühling nach Henrys Tod heimgesucht hatten, und an die winzigen blauen Schmetterlinge am Tag von Claires Flucht mit Whit. Diese beiden Jahre waren bewölkt und feucht gewesen, und sie hatten vor allem graues, schlammiges Salz produziert. In diesem Frühling hatte Jo jedoch ein gutes Gefühl. Die Borsten-Schwertlilie hatte schon früh den Kopf aus der Erde gesteckt, und die Gänse kehrten bereits in Schwärmen zurück und zogen in militärischer V-Formation über den Himmel. Der Boden trocknete gut. Alles in allem, dachte Jo, sah das nach einem fantastischen Jahr aus.
Zufrieden stellte sie fest, dass die Dämme hielten, und schaute dann nach den anderen, kleineren Schleusen – bei der letzten war sie nicht sicher, ob alles halten würde –, als sie Dee an den Becken entlangwandeln sah. Das Mädchen war so blass, dass es fast wie eine Geistererscheinung wirkte. Aber hier draußen in der Marsch, wo Himmel und Wasser mit der Wahrnehmung und vor allem mit dem Verstand der Menschen so einiges anstellten, kam man natürlich leicht auf solche Ideen.
Jo beobachtete, wie Dee zu den Grabsteinen hinüberschlenderte und dort stehen blieb, um die Inschriften zu lesen. Von den Gräbern aus führte ein überwucherter schmaler Pfad zur anderen Seite der Bassins, und als Dee näher kam, wurde Jo klar, dass auch sie in ihren dünnen Kleidern wohl wie eine Vision wirken musste. Sie trug ein verschlissenes Männerhemd aus Leinen über einer abgenutzten Hose, die sie in Gummistiefel gesteckt hatte. Ihren Strohhut hatte sie mit einem dünnen Halstuch festgebunden, um auch den letzten Rest Sonne abzuhalten. Endlich erreichte sie die atemlose Dee.
»Wow«, bemerkte sie mit großen Augen, »ich wusste gar nicht, wie groß das Gelände hier tatsächlich ist.« Sie schniefte in der Kälte ein wenig, und plötzlich wurde Jo zu ihrer Verwunderung klar, dass ihr die Kleine fast ein wenig leidtat. Sie war mit der ganzen Situation völlig überfordert. Wie kopflos musste so ein junges Mädchen bloß gewesen sein, um etwas mit einem Mann wie Whit anzufangen. Es war furchtbar, wenn einem die Zuneigung eines Menschen entrissen wurde, wie wenn einem die Elster einen Silberlöffel stibitzt, aber wem gehörte Whit denn überhaupt, fragte sich Jo. Einst hatte sie geglaubt, er würde zu ihr gehören, und dann hatte Claire ihn für sich beansprucht, inzwischen würde Jo aber sagen, dass er nur sein eigener Herr war. Ihn halten zu wollen war in etwa so, als versuchte man, seine Faust um Wasser zu schließen, das kühle Nass rann durch die Finger und ließ sich nicht festhalten. Jo trat näher an Dee heran. Vielleicht war es besser, wenn sie jetzt beide den Mund hielten und sich an die Arbeit machten, bevor sie noch zu viel sagte. Sie fasste Dee am Arm.
»Komm mit. Du kannst dich hier mal nützlich machen. Es ist immer noch was vom Salz aus dem letzten Sommer übrig, und ich hab gehört, dass in Wellfleet ein paar neue Restaurants eröffnen. Vielleicht haben die ja Interesse. In Prospect hat sich die Ware in letzter Zeit gar nicht gut verkauft, und ich sollte wirklich versuchen, sie auch mal woanders anzubieten. Du kannst mir helfen und Säckchen mit Kostproben fertig machen.«
Dee folgte Jo schnaufend. Sie sprach in hastig hervorgestoßenen Sätzen und erinnerte Jo damit an ein Schoßhündchen, das jemandem in die Fersen zwickte.
»Es tut mir echt leid, dass Whit Ihnen die ganzen scheußlichen Briefe geschickt hat, und ich bedauere es wirklich, dass er da auch noch Pater Stone mit reinzieht.«
Jo schnaubte. Also hatte Dee den Brief gefunden, den Claire und sie doch vor ihr geheim halten wollten. Was hatte das Kind denn nur gemacht, etwa den Müll durchwühlt? Vielleicht hatte sie ihre neue Mitbewohnerin doch unterschätzt.
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