Das Geheimnis der Salzschwestern
ihren reißenden Sorgenstrom. »Warst du heute Morgen zufällig schon mit Icicle unterwegs?«
Claire blinzelte. »Nein. Aber ich muss mal nach ihm sehen. Vielleicht drehe ich eine Runde mit ihm.« Jo verzog den Mund, und Panik durchfuhr Claires Herz. »Du kannst mich nicht verlassen«, echote Whits Stimme in ihrem Kopf. »Jetzt nicht. Niemals!« Sie versuchte, so unbekümmert wie möglich zu klingen: »Wieso, was ist denn los?«
»Ach, nichts. Hast du gestern Abend eventuell vergessen, das Scheunentor zuzumachen? Als ich heute Morgen nach den Becken geguckt habe, lief Icicle draußen rum, das ist alles.« Jo zögerte. »Glaubst du, du hast versäumt, den Riegel vorzuschieben?«
Claire stellte das Geschirr klirrend ins Spülbecken, spritzte sich dabei Seifenschaum aufs Hemd und sah zu, wie die Flecken größer wurden, sich ausbreiteten wie die gezackten Flügel einer Motte. Sie wusste ganz genau, was ihre Schwester wissen wollte, aber nicht aussprach.
»Wahrscheinlich. Du weißt ja, wie ich bin.« Claire streckte die Arme zur Seite aus und zeigte die Teigspritzer und Mehlreste auf ihrer Bluse in voller Pracht. »Ich meine, sieh mich doch nur an, chaotisch wie immer. Am besten ziehe ich mich mal um. Und dann sehe ich nach Icicle.«
Oben streifte sie ein altes T-Shirt mit einem Loch und einen sauberen Pullover mit Zopfmuster über. Sie hatte das Scheunentor verriegelt. Dessen war sie sich hundertprozentig sicher, genauso sicher, wie sie wusste, wer es wieder geöffnet hatte. Sie schaute in den Spiegel und leckte sich die Lippen. Sie trug kein Make-up, war zerzaust, hatte vom vielen Wind gerötete runde Wangen. In letzter Zeit erkannte sie sich ja selbst kaum wieder. Aber das tat eigentlich auch nichts zur Sache. Ihr war klar, dass sie tausend Verkleidungen anlegen konnte, solange Whit Turner noch da draußen war, würde sie immer nur eine gebrandmarkte Frau sein.
Als Claire das Scheunentor öffnete, fielen ihr Fußspuren auf, die man so absichtlich dort hinterlassen hatte, dass sie nur von einer einzigen Person stammen konnten. Ganz offensichtlich hatte sich Whit am Rande der Salt Creek Farm herumgetrieben. Claire konnte seine Anwesenheit noch immer spüren.
Die Sonne war schon fast ganz aufgegangen, und der Tag stellte sich als sehr mild heraus. Claire schwänzte zum ersten Mal seit ihrer Hochzeit die Ostermesse, und das kam ihr fast wie ein Verbrechen vor. Ihre Sünden wogen schwer, pressten sich von innen gegen ihre Rippen wie ein eingesperrter Vogelschwarm, der nach Freiheit strebte. Dagegen half nur eins, nämlich Arbeit, das wusste sie. So etwas hätte auch Jo sagen können, und Claire musste ein wenig lachen, als ihr klar wurde, dass sie vielleicht doch eine Tochter des Salzes war. Sie holte Icicles Striegel und seine Mähnenbürste und begann ihn zu putzen.
Sie war gerade mit dem Schweif fertig, als sich das Scheunentor wieder öffnete und Dees Silhouette auf der Schwelle erschien. Das Mädchen trug eine von Jos alten Leinenblusen, eine schäbige Strickjacke, eine Jogginghose und lange Wollsocken. Bis jetzt hatte Claire sich immer geweigert, mit ihr allein zu sein. Wenn sie gerade aus dem Schlafzimmer trat und Dee im Flur entdeckte, knallte sie die Tür wieder zu. Wenn sie in den Salzbecken arbeitete, und Dee hinzukam, stürmte sie davon, und sie stand vom Tisch auf, sobald Dee ihren Bauch heranschob. Claire wollte eine Entschuldigung, aber sie war sich nicht sicher, in welcher Form. Erwartete sie etwa, dass Dee den Ärmel hochschob und ihr frische Einschnitte präsentierte oder sich den Schädel schor und die Nahrung verweigerte, bis sie und das Baby praktischerweise verhungert waren? Oder schlimmer noch, wünschte sie sich vielleicht, dass das Mädchen irgendwann einfach verschwand und ihr das Kind überließ? Es kam Claire so vor, als habe Dee etwas an sich gebracht, was eigentlich ihr zustand.
»Lass bitte mein Pferd in Ruhe«, fauchte sie schließlich und hätte beinahe »und auch meinen Ehemann« hinzugefügt, obwohl sie sich nicht mehr so ganz sicher war, ob sie Whit überhaupt noch so nennen konnte.
Dee runzelte die Stirn und schob den Unterkiefer vor, und das machte Claire fast wahnsinnig. Hier stand sie nun und hatte sich auf eine Entschuldigung eingestellt, nur um jetzt diese pubertäre Rotzigkeit über sich ergehen lassen zu müssen.
»Sieht so aus, als ob sie nicht nur beim Reiten auf einem ganz schön hohen Ross sitzen würden«, murmelte Dee.
Claire zog die Augenbrauen nach oben, und
Weitere Kostenlose Bücher