Das Geheimnis der Salzschwestern
war Claires früheste Erinnerung einfach nur die Farbe Weiß – aber nicht ein schlichtes, friedliches Weiß. Vielmehr war es ein zischendes Weiß, wie der Schweif einer Rakete oder das blubbernde Eiweiß eines Spiegeleis. Ein schaumiges, reichhaltiges Weiß, nach dessen Berührung sie sich sehnte, obwohl sie doch wusste, dass sie es nicht haben konnte.
Damals musste sie so ungefähr vier gewesen sein. Sie stand in der Marsch, starrte auf das Wasser hinaus, und es war sowohl Hochsommer als auch Mittag. Vor ihr erstrahlten die Salzkristalle rein und laut. Am hinteren Ende des Grundstücks konnte Claire erkennen, wie ihre Schwester mit einem langen, hölzernen Rechen vorsichtig über die Oberfläche eines Beckens fuhr, eine Holzschüssel zu ihren Füßen. Sie war so weit entfernt, dass sie einem staksenden Vogel ähnelte.
Claire erinnerte sich noch daran, dass die Reihe der seichten Bassins auf sie wie Gräber gewirkt hatte – tote Löcher voller Minerale, die im Winter zufroren, sich in der Hitze mit Schlamm füllten, und im Frühling undefinierbar waren. Sie mochte nur Gewässer, die flossen und strömten, Wasser, das frei war. Am besten gefiel es ihr, auf Drake’s Beach herumzutollen, die Zehen in die kalten Fluten zu stecken und begeistert zu quietschen, wenn die Wogen des Ozeans ihre Knöchel umspülten. Sie liebte es, in einem Eimer Seegetier zu sammeln, das sie von den Felsen pflückte. Die seltsamen Wesen faszinierten sie, je schleimiger, desto besser.
Es war ein heißer Tag. Claire hob einen Kieselstein auf, warf ihn in das Becken vor sich und versetzte so die feine, weiße Salzkruste in Bewegung, wodurch sie feucht wurde. Das war streng verboten, denn dieses Salz war kostbar. Das gab es nämlich nur ein paar Wochen im Jahr, und wenn es sich bildete, versuchten sie, so viel wie möglich davon zu ernten. Claires Mutter und Schwester schufteten stundenlang und holten die Kristalle mit ihren Harken ein. Ihre Gesichter wurden dabei unter der Hutkrempe zu rosafarbenen Erdbeeren, die Hände schmerzten in den Handschuhen, und der Schweiß trocknete ihnen kreisförmig auf dem Rücken. Claire war noch zu klein, um zu schwitzen, aber sie war an diesem Tag trotzdem ganz klebrig. Das beste Wetter für das Salz war schwüle Hitze, und die Luft war dann so warm und dick, dass es ihr vorkam, als würde sie durch Matsch waten.
Aber jetzt wollte sie ihren Stein zurückhaben. Verstohlen warf sie einen Blick über die Becken hinweg zu ihrer Schwester. Sachen ins Wasser zu werfen war verboten, es war aber noch viel schlimmer, in die Becken hineinzusteigen oder in sie hineinzufassen, weil man damit nämlich das Salz versenken und verschmutzen würde. Doch Claire scherte das nicht. Sie malte sich aus, wie der schleimige Matsch ihre Hände umfangen würde, legte sich auf den Bauch und rutschte nach vorn, bis ihre Finger die Oberfläche beinahe berührten. Als sie gerade hineingreifen wollte, ertönte ein schriller Schrei. Sie hielt ihn zunächst für das Kreischen der lästigen Möwen, dann aber erkannte sie die Stimme ihrer Mutter. Bevor Claire auch nur wusste, wie ihr geschah, ging diese auch schon auf sie los. »Du gottloses Kind!«, schrie sie und rüttelte Claire heftig.
Claire sah, wie Jo sich auf der anderen Seite der Marsch zu ihnen umwandte und dann ihre Harke fallen ließ. »Mama!«, rief sie. Noch hatte sie nicht die dunkle Reibeisenstimme, die sie später haben würde. Jo rannte los und sprang dabei über die schmalen Kanäle, aber es war schon zu spät. Mama hatte Claire hochgerissen und begann nun auf sie einzuprügeln, schlug auf Beine, Schultern, Nacken und Wangen. Es war, als würden eine Million wütender Bienen auf sie einstechen. Claire hob die Arme vors Gesicht.
»Mama, ist ja gut.« Jetzt war Jo da. Damals war sie schon so groß wie Mutter, wenn auch viel dunkler. Claire hingegen war das exakte Ebenbild ihrer Mutter: blass, rothaarig und mit demselben störrischen Kinn, das einigen Leuten aus der Stadt Anlass dazu gab zu behaupten, dass sie nie wirklich hübsch sein würde, während andere es für ein Zeichen von Charakter hielten. So schnell, wie sie auf sie losgegangen war, ließ Mama auch wieder von Claire ab. Sie führte die Faust zum Mund und stieß einen erstickten Laut aus – tatsächlich war es ein Name. Henry.
»Claire.« Joanna hockte sich hin, bis die beiden auf Augenhöhe waren, und legte ihr die Hände mit ausgestreckten Fingern auf die Schultern, wie zwei Seesterne. »Steig niemals in
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