Das Geheimnis der Salzschwestern
die Becken. Verstanden?«
Claire nickte und tat so, als würde sie zuhören, in Wirklichkeit war ihr Blick jedoch auf die krachenden Wellen in der Ferne gerichtet. Ihr wurde klar, dass sie hier in der Marsch keine Perspektive hatte. Gar keine. Ihre Abneigung war so groß, dass sie sogar ihren verschwundenen Vater beneidete, denn ihm war der große Coup gelungen: die Flucht.
Und davon träumte auch Claire, und zwar die nächsten dreizehn Jahre lang. Sie sehnte sich nach Bildern, die von Leere zeugten: ein verlassenes Bett, ein leerer Schrank, ein zum Aufbruch bereiter Koffer. Die rundlichen Spitzen der wilden Iris, die im Frühling unter ihrem Fenster blühten, das Essen, das ihre Mutter auf den Teller vor ihr schöpfte oder ihre neuen, weiblichen Formen – das alles wollte sie gar nicht. Freunde oder Partys interessierten sie nur dann, wenn sie im Mittelpunkt stehen konnte. Und vor allem war sie nicht interessiert an der Liebe, zumindest so lange nicht, bis die sie mit einem Mal überraschte und in ihr ein so riesiges, klaffendes Verlangen aufriss, dass sie zur Diebin wurde, um es zu stillen.
Claire und Jo standen sich zwar nicht mehr nahe, Claire musste sich aber trotzdem eingestehen, dass sie immer noch eine Familie waren, aus demselben zerlumpten Stück Stoff geschnitten, ob ihr das nun passte oder nicht, selbst wenn Jos Seite ein wenig anders aussah als die ihre. Und deshalb war sie auch nicht erstaunt, als Cutt Pitman das Imbissrestaurant eröffnete und dort mitten auf den Tischen das Salz thronte. Insgeheim freute sie sich in gewisser Weise darüber. Selbst wenn Claire sich das wünschte, konnte man Jo eben nie ignorieren.
Als Erwachsene war Claires Abneigung gegen die wichtigste Substanz ihrer Kindheit sogar noch größer geworden. Als Jugendliche war sie gegen das Zeug machtlos gewesen, aber jetzt, wo sie mit Whit verheiratet war, hatte sich das Blatt gewendet. Wenn sie das Salz nicht mochte, das wusste Claire, dann konnte sie auch andere dagegen aufhetzen. Doch Hass erzeugt Hass, und Traurigkeit erzeugt Traurigkeit, und so war es auch bei Claire. Zunächst hatte sie nur einen gewissen Widerwillen gegen das Salz, im Verlauf ihrer Ehe häuften sich Betrübnis und Gram aber immer weiter auf, und schließlich brachte das Salz in ihr vielmehr Furcht als nur Abneigung hervor.
Sie hatte nie bewusst geplant, in der Stadt das Gerücht zu verbreiten, das Salz sei verdorben. Die Idee war ihr im Zorn gekommen, als sie und Whit gerade aus den Flitterwochen zurückgekehrt waren. Claire wachte an jenem Morgen zufrieden auf, reckte sich wohlig im Ehebett mit der Decke aus Satin und den Spitzenkissen, zog sich dann an und marschierte Plover Hill hinunter zu Herman Uptons kleinem Laden.
»Hallo, Claire-Bär«, flötete Mr Upton, als sie zur Tür hereinkam, und wurde dann rot, als er die großen, vertrauten Ringe an ihrer linken Hand entdeckte – Idas Ringe. »Mein Gott … schwer zu glauben, dass du jetzt wirklich erwachsen bist«, stammelte er und fummelte an seinem Kragen herum. »Wie waren die Flitterwochen?«
»Wunderbar«, antwortete Claire und zwang sich zu einem falschen Lächeln. »Ich möchte ein Kundenkonto eröffnen.«
Mr Upton strahlte und bückte sich nach seinem Buch. »Mrs Turner – also, Ida – hatte auch eins, als sie noch unter uns war. Warum ersetzen wir ihren Namen nicht einfach durch deinen?«
Claire runzelte die Stirn. »Vielen Dank, aber ich hätte gern mein eigenes Konto.«
Mr Upton hielt inne und sah sie über seine Brille hinweg an. Einen Moment lang nahmen seine Augen einen beinahe mitleidigen Ausdruck an, dachte Claire, und dann blätterte er in dem Buch. »Natürlich möchtest du das«, nickte er. »Selbstverständlich.«
Es war kalt im Laden, also verschränkte Claire die Arme fest vor der Brust, während sie den Blick über die Waren in den Regalen wandern ließ. Hier standen all die Dinge herum, mit denen sie aufgewachsen war. Kisten mit Kartoffeln. Dosen mit Chili, wenn sie es sich leisten konnten. Die Seifenflocken, die ihre Mutter sowohl zum Spülen als auch für die Wäsche benutzte. Und natürlich Säckchen mit dem Salz ihrer Familie, die wie dreiste Bettler gut sichtbar ganz vorne im Laden thronten. Wütend verzog Claire das Gesicht.
»Dann musst du nur noch hier unterschreiben«, erklärte Mr Upton und deutete auf ein leeres Feld unten auf der Seite. »Sollen wir die Rechnungen an Whit schicken?«
»Ja, wunderbar.« Claire setzte ihren neuen Namen auf das Papier, mit
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