Das Geheimnis der Salzschwestern
Narben endlich verheilt waren und sich die neue Scheune langsam aus der Asche der alten erhob, hatte Jo das Gefühl, vielleicht endlich die Geister ihrer Familie abgeschüttelt zu haben. Das Schlimmste war eingetreten, aber Mama, Claire und sie hatten es überlebt, und das Salz gehörte immer noch ihnen. Womöglich, dachte Jo, als sie wieder einmal an der bröckeligen Wand einer Rinne herumkratzte, war es ja sogar besser, dass Ethan Claire verlassen hatte. Claire hatte dafür zwar einen furchtbaren Preis bezahlt, aber Jo hatte nun immer noch ihre Schwester. Sie und Claire, sie würden gemeinsam in der Marsch alt werden. Claire würde vielleicht mit einem kleinen Nebenverdienst als Sekretärin zu ihrem Einkommen beitragen, aber ansonsten würden sie als alte Jungfern bis zum Ende gemeinsam ausharren, die letzten Nachkommen der Gillys. Jetzt, wo Ethan fort war, würde Claire sich ihr bestimmt irgendwann wieder zuwenden. Und wenn sie erst einmal gemeinsam die Reise in die Zukunft angetreten hatten, dann würden sie bald auch wieder zu alten Zeiten zurückkehren, in denen sie beide Unserer Lieben Frau zugetan und Claire noch dazu bereit gewesen war, bei der Salzgewinnung mitzuarbeiten. Und Jo würde vielleicht nicht mehr bei jedem Blick in den Spiegel daran erinnert werden, dass sie eine ziemlich hässliche Seite hatte.
K APITEL 10
D ee hatte die Augen nach Hinweisen danach aufgehalten, dass bald der Herbst einzog – trockene rote Blätter, das Glühen des Altweibersommers, harte Äpfel, die scheffelweise am Straßenrand verkauft wurden –, ahnte aber langsam, dass sie sich nach den falschen Anzeichen umgesehen hatte, denn das Wetter war einfach nur scheußlich und feucht, und der Himmel über ihr wirkte etwa so attraktiv wie eine laufende Nase.
Wie als Entschädigung nahm das Geschäft im Imbiss zu, als die letzten Fischerboote der Stadt im Hafen einliefen und die umliegenden Kneipen am Ende der Saison zumachten. Plötzlich war es in der Leuchtturmstube gemütlich und voll. Die dumpfen Laternen, die Cutt gebraucht gekauft hatte, warfen ein sanftes Licht auf das karierte Linoleum, und das dunkle Rot der Sitznischen wirkte angenehm warm gegen den Regen draußen. Cutt fing an, seinen Eintöpfen noch ein zusätzliches Stück Butter hinzuzufügen, und selbst die sahen inzwischen recht appetitlich aus.
Zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Mutter lockerten sich die engen Bande um Dees Brust, und sie hatte das Gefühl, endlich wieder tief durchatmen zu können – ohne dabei das Andenken ihrer Mutter zu entehren. Ihrem Vater ging es genauso, das konnte sie deutlich sehen. Er pfiff jetzt, wenn er am Ende des Tages die Küche wischte, und von Zeit zu Zeit erlaubte er sich am Grill sogar ein paar Späße – auch wenn die eher mau und für Fünfjährige bestimmt schienen –, zum Beispiel Häschenwitze und Scherzfragen über Tiere. Dees Mutter war die Lustigere von den beiden gewesen, ihr Humor hatte aber weder auf Cutt noch auf Dee abgefärbt, und das wussten sie auch. Dee lachte trotzdem, nur um ihrem Vater zu zeigen, dass sie seine Bemühungen zu schätzen wusste, und er brüllte im Gegenzug nicht mehr herum, wenn sie vergessen hatte, die Serviettenbehälter oder Senfgläser nachzufüllen.
Dee hätte eigentlich gedacht, dass Claire bei dem ständigen Regen auf ihren morgendlichen Ausritt verzichten würde, aber ihrem großen weißen Pferd schien es nichts auszumachen, durch den Matsch zu traben, und der Reiterin auch nicht. Der einzige Unterschied war, dass Claire das Tier jetzt nur noch selten draußen anband, damit es sich nicht verkühlte. Stattdessen brauste sie nach dem Ausritt in ihrem roten Sportwagen herbei, dessen offenes Verdeck sie den Elementen aussetzte, und das Wasser nur so aufspritzen ließ, wenn sie parkte, wo es ihr gerade beliebte. Einer Claire Turner verpasste offensichtlich niemand einen Strafzettel.
Mr Weatherly bemerkte, wie unruhig Dee jedes Mal wurde, wenn Claire auf ein Ei und eine Tasse Kaffee hereinkam. »Oh ja«, murmelte er und nickte, während er an seinem eigenen Getränk nippte, »bei der würde ich auch auf der Hut sein. Sie mag ja schön sein wie das Morgenrot, aber in ihren Adern fließt Gift.«
Dee stellte ihren Kaffeebecher ab und stützte sich mit den Ellbogen auf der Theke ab. Leise erklärte sie: »Also, wissen Sie, die will nicht, dass wir Jos Salz anbieten. Deswegen steht es auch nicht mehr auf den Tischen. Ich bringe es nur noch Kunden, die danach fragen. Hassen sich Jo und
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