Das Geheimnis der Salzschwestern
mit der Zeit lernten ihre Nerven, den antiseptischen Schub zu ertragen. Danach löste sie Salz in der Badewanne auf und sah dabei zu, wie sich die letzten Fetzen totes Gewebe von ihren Wunden lösten und davonschwammen. Zum Schluss rührte sie eine Paste aus Salz und Wasser an, die sie direkt auf die Haut auftrug. Die Sole verwandelte ihre Narben in eine Rüstung.
Claire und sie entwickelten ein System des Sich-gegenseitig-Ausweichens, abgesehen von den notwendigen Begegnungen bei den Mahlzeiten und den peinlichen Momenten, wenn sie sich im Flur über den Weg liefen, weil beide als Erste ins Bad wollten. Seit Jos Rückkehr war Claire schweigsam und wortkarg – sie band sich die Haare so stramm hoch, dass sie davon Schlitzaugen bekam, hockte stundenlang über ihren Stenografiebüchern oder tat geheimnisvoll und verschwand immer mal wieder für eine Weile, ohne dass jemand wusste, wohin sie ging. Einmal erwischte Jo sie, als sie sich um Mitternacht ins Haus schlich, und bei ihrem Anblick zuckte Claire zusammen und fasste sich an den Hals, so wie früher, wenn sie nach den Treffen mit Ethan ihre Knutschflecke versteckt hatte. Ihre Freundinnen aus der Highschool – die Cheerleaderinnen und Mädchen vom Jahrbuch – meldeten sich dauernd, Claire rief jedoch nie zurück und ließ die alten Freundschaften lieber ganz langsam sterben, bis das Telefon endlich schwieg. Und sie weigerte sich kategorisch, zur Kirche zu gehen.
»Wenn Gott Ethan kriegt«, entgegnete sie auf Mamas Vorschlag, sie solle mal ihren Hintern hochbekommen und sie zur Messe begleiten, »dann kann Satan gerne mich haben.«
Dafür schlug Mama sie direkt auf den Mund, aber Claire fuhr sich nur mit der Hand über die Lippen und setzte dann ein hartes kleines Grinsen auf. Am nächsten Sonntag kam sie erst gegen Mittag nach unten, zwei Stunden nach Ende der Messe. Pater Flynn fragte an diesem Tag gar nicht erst, wo sie steckte, und Mama lieferte ihm auch keine Erklärung.
Aber damit endete Claires Aufmüpfigkeit noch nicht. So, wie sie dem Herrn den Rücken kehrte, lehnte sie auch alles ab, was mit dem Salz zu tun hatte. Sie würzte ihr Essen nicht mehr damit, weigerte sich, es in Säcke zu füllen, und rümpfte angesichts des Vorschlags, Jo bei der Reparatur der Schleusen zu helfen, nur die Nase. Außerdem machte sie keinen Schritt in die Nähe der abgebrannten Scheune.
Jo hingegen verbrachte wieder Stunden im Freien, ergötzte sich an den feuchten Gerüchen und an der Unruhe der Insekten, die nach dem langen Winter aufs Neue hervorkamen. Eines Abends entdeckte sie dort draußen Whit, der sich am Rande der Marsch herumdrückte. Hinter ihm nahm langsam die neue Scheune Formen an. Ihre ungestrichenen Bretter und Balken waren so frisch, dass sie noch kleine Harztropfen absonderten. Die Becken waren gerade geflutet worden, und bislang prophezeiten alle Vorzeichen für dieses Jahr nur Gutes. Das Meerwasser schäumte bei der richtigen Temperatur, die Wolken ballten sich gleichmäßig zusammen, und Henrys Bassin färbte sich langsam in einem Roséton.
Whit sah auf, als er sie herankommen hörte. Falls Jos entstelltes Gesicht ihn schockiert haben sollte, ließ er es sich nicht anmerken. Stattdessen gab er sich ganz geschäftsmäßig. »Na, ihr habt ja viel zu tun«, meinte er und wies auf die halbfertige Scheune.
Jo grub einen Zeh in den Schlamm. »Das würde ich nicht so sagen. Das Salz bildet sich weiter, wir können es nur leider nicht lagern.«
Whit griff in seine Jackentasche und zog ein Scheckbuch hervor. »Das könnte ich ändern. Ich könnte dir hier und jetzt ein Angebot machen. Deine Familie und du, ihr überschreibt mir die Marsch, dafür lasse ich euch weiterhin hier wohnen. Ihr könntet von heute auf morgen die neue Scheune bezahlen und auch all deine Arztrechnungen begleichen.« Sein Blick schweifte über ihre Narben.
Jo hielt den Atem an und dachte nach. Ida hatte ihnen nie die Möglichkeit geboten, auf dem Gut zu bleiben, Jo war aber trotzdem klar, dass sie sich nie im Leben in die Hände eines Turner übergeben würde, wie pleite sie auch sein mochte. »Verschwinde, Whit«, knurrte sie schließlich, sie war plötzlich furchtbar müde. Sie wandte sich ab, umrundete den Halbkreis aus Gräbern und ging zum Haus zurück. Warum nur, dachte sie, machte das Land ihrer Familie ihnen die Vergangenheit eigentlich zu so einer Last? Und warum hatten die Turners, die doch ausgedehnte Ländereien besaßen, nicht dasselbe Problem?
Als im Frühjahr ihre
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