Das Geheimnis der Salzschwestern
und hielt dann auf die letzte Kurve vor der Stadt zu, während Dee allein in Richtung Bank Street zurücktaumelte. Bilder von Claires roten Haaren und ihrer weißen Haut vermischten sich mit Whits Lippen an ihrem Hals, bis alles nur noch ein großes Durcheinander war. War sie auf Claires Mann aus oder nur auf Claire, fragte sie sich. Und welchen Turner würde sie morgen im Leuchtturm wirklich bedienen – Mann oder Frau? Und wo war die Trennlinie zwischen den beiden?
Sie erreichte den Imbiss und sah durch die Fenster zur Straße hinein, die jetzt, am späten Nachmittag, bereits dunkel dalagen. Auf ihr Spiegelbild darin war sie nicht gefasst. Sie starrte es an – in der Scheibe wirkte ihr Gesicht schmaler als in Wirklichkeit und war mit Wassertropfen übersät –, und da kam ihr in den Sinn, dass sie vielleicht diese Linie zwischen ihnen war. Bevor sie sich darüber den Kopf zerbrechen konnte, ließ eine kleine Bewegung von ihr das Bild in tausend Stücke zerbrechen und verwandelte den zweifelhaften Teil von ihr wieder in Regen. Zurück blieb nur eine einsame Glasscheibe, die an diesem düsteren Herbsttag kein Sonnenlicht reflektierte.
K APITEL 11
A m Sonntag musst du schneller schaufeln«, hatte Jos Mutter in ihrer Jugend immer zu ihr gesagt, wenn es kalt genug war, um das Salz von den Becken in die Scheune zu bringen. »Der Teufel hat Zeit, wir aber nicht.« Das war, wenn am Horizont der erste Regen aufzuziehen drohte und am Himmel mit traurigen Schreien und hastigem Flügelschlag Gänse in sauberer V-Formation vorbeizogen.
In diesem Jahr ging Jo das Salz nur bis zur Hüfte. Das würde kaum reichen, um die Fischer zu versorgen, und erst recht nicht, um sich damit die Bank vom Leib zu halten. Eins war klar, im Frühling würden die von ihr mehr einfordern, als sie zu geben hatte.
Sie hatte die Ersparnisse eines ganzen Lebens zusammengekratzt und zu ihrem Entsetzen festgestellt, dass es nur für die drei überfälligen Differenzbeträge und noch zwei weitere Monate reichte. Für sie ging die Rechnung einfach nicht auf, diese Runde hatte eindeutig die Bank gewonnen. Sie bot diesen Menschen den Ertrag eines ganzen arbeitsreichen Lebens und bekam dafür nur mickrige fünf Monate geschenkt. Na ja , dachte Jo und versuchte, sich nicht länger zu grämen, während sie die Salzberge transportierte, eine Jahreszeit ist mir hier ja noch vergönnt. Der Winter. Die längsten Monate mit den kürzesten Tagen. Eine Zeit, in der sich Frost über die Marsch legte und alles zum Stillstand brachte. Vom Weg weiter unten hörte sie, wie die trübe Glocke von St. Agnes die verstimmte Version eines Liedes läutete. In wenigen Wochen würde selbst die festfrieren, und dann würde der Sumpf in eisiger, tiefster Stille daliegen.
Jo öffnete das Scheunentor und schob die Schubkarre hinein, als die ersten dicken Regentropfen laut wie Seemöwen im Flug herunterplatschten. Sie blieb im Türrahmen stehen und beobachtete kurz den sich verändernden Himmel. Dann fuhr sie mit ihrer Arbeit fort, drehte die Schubkarre um, kippte das Salz in eine leere Holzkiste und fegte die Körnchen auf, die daneben gefallen waren.
Schließlich zog sie die Abdeckung über die Kiste und rieb ihre Hände aneinander, eine gerunzelte Handfläche gegen eine glatte. Normalerweise trug sie Handschuhe, die hatte sie heute jedoch vergessen, und jetzt war es zu spät. Wenn sie nicht aufpasste, dann setzten sich Staub und Dreck in den Falten ihrer Narben ab und verfärbten die Haut dunkel. Ein scharrendes Geräusch draußen vor der Scheune riss sie aus ihren Gedanken, und dann übertönte Whit Turners Stimme Regen und Wind und schwang sich auf bis in die Dachbalken, wo sie anklagend verharrte.
»Ich weiß, dass du da drin bist, Joanna«, rief Whit durch den Spalt des Scheunentors und scharrte mit den Füßen über die feuchte Erde. »Mach schon auf.«
Was wollte der denn? Jo zögerte, ihr Herz schlug bis zum Hals, und dann schnappte sie einmal so tief wie möglich nach Luft, schob die Türen auf und blinzelte hinaus in den Regen. »Keinen Schritt weiter!«, drohte sie und griff nach einer alten Sense, die einer ihrer vom Fluch heimgesuchten männlichen Vorfahren zurückgelassen hatte, aber deren Klinge war so verrostet und unbrauchbar, dass Whit nur einen kurzen Blick darauf warf. Jo ließ ihre Waffe wieder sinken, lehnte sie an den splittrigen Türrahmen und hoffte nur, ihre butterweichen Knie würden bald wieder ihren Normalzustand annehmen. »Was verschafft mir
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